Die göttlichen Spielarten der menschlichen Liebe
Erfurt. Wenn sich das Göttliche in einer schier übermenschlichen Kunstanstrengung offenbart, dann ist dies in der Barockmusik zuverlässig mit einem Namen verbunden: Johann Sebastian Bach. Kein anderer Komponist hat so kühne und klare Klang-Architekturen mit innigsten Glaubenskenntnissen verbunden, kein zweiter sein Genie so sehr in den Dienst seines Gottes gestellt. Wie man eine zeitgemäße Sicht auf dieses große Erbe gewinnen kann, zeigte das Ensemble Nico and the Navigators nun zum Abschluss der Thüringer Bachwochen im inszenierten Konzert "Cantatatanz" - einem Passagenwerk zwischen ihrer halleschen Händelfest-Inszenierung von "Orlando" im vergangenen Jahr und Rossinis "Petite Messe solenelle" beim Kunstfest Weimar im kommenden September. Dass sich zumindest zwei der fünf Akteure Bach dabei von Händel her näherten, war zur Premiere in der Erfurter Predigerkirche noch erkennbar. Der Countertenor Terry Wey und die Tänzerin Yui Kawaguchi erprobten noch einmal jenes gestische Vokabular, mit dem die Gruppe um Regisseurin Nicola Hümpel auch schon in "Anaesthesia" ihren Klangzugang gesucht hatte: die Suche nach dem Sitz der Sinne, das Umflattern der Körper durch die Schmetterlinge der Seele, die koketten Barock-Affekte... Gemeinsam mit den drei Musikern Mayumi Hirasaki (Violine), Eugène Michelangeli (Orgel, Cembalo) und Jakob David Rattinger (Viola da Gamba) aber stießen sie auch in neue spirituelle Dimensionen vor, ohne die Texte offensiv zu illustrieren. Ein Clou war dabei das Bühnenbild von Oliver Proske: Alte Kirchenbänke konterten zunächst die Perspektive der Zuschauer-Gemeinde, nach und nach aber klappten die protestantisch harten Sitze aus der Waagerechten in die Senkrechte - und wurden zu Säulen, die man mühelos drehen und verschieben konnte. Sie geben den Darstellern eine Fülle von Spielanlässen - vom Streben nach dem Aufstieg zwischen zwei Seitenlehnen über die kollektive Ignoranz bei der berühmten Violin-Chaconne bis hin zum traumverlorenen Gleiten. Stärker als bisher wurden zudem die Musiker in das Spiel einbezogen: Wenn Rattinger einen Satz von Marin Marais streicht, der neben Bach-Sohn Johann Christoph als Kontrast-Lieferant gewählt worden ist, dann greift Michelangeli nach imaginären Tasten. Die japanische Geigerin bei einer Tee-Zeremonie vom stummen Sänger belauscht, der Cembalist spielt die Aria aus den Goldberg-Variationen auch auf den Füßen der Tänzerin - lauter Szenen, in denen Menschenkinder einander in der Musik zu Ehren Gottes entdecken. Den Rahmen für diese Miniaturen, in denen eine Pfeffermühle heiligen Geist spendet und ein feines Tuch wie Tränenstrom fließt, liefert aber eine seltsam doppeldeutige Arie: Denn das "Bist du bei mir" kann im Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach ja sowohl auf Gott als auch auf die Gattin gemünzt sein. Dies aber sind die Spielarten der Liebe, die schon Luther als die höchsten pries - aus dem 17. in das 21. Jahrhundert übersetzt. Ein umjubeltes Finale des Festivals, das mit einem Rekord von 14 800 Besuchern endete.
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