Witz inbegriffen

Wie die Ganzkörperpoeten von Nico and the Navigators Rossinis "Petite messe solennelle» zu einer Performance machen «Glaubensbekenntnisse im 21. Jahrhundert» nennt die Berliner Off-Theatertruppe Nico and the Navigators ihre neue, vom Kunstfest Weimar in Auftrag gegebene Kreation - ein «Oratorium als Bildertheater» nach Gioachino Rossinis «Petite Messe solennelle». Die Mixtur aus Gesang, Schauspiel, Tanz, Slapstick und Tragikomödiantik kann selbst ein lateinisch-katholisches Messritual musiktheatralisch in Schwung versetzen, so geschehen bei der Uraufführung am Theater Erfurt. Die Produktion wird Mitte November im Berliner Radialsystem gezeigt, im April und Juni 2012 in Dijon, Paris und Bregenz. Zwei pausenlose Stunden lang «navigiert» die Performance-Gruppe mit der Ausdruckswucht eines exzessiven Körper-Bilder-Theaters durch Rossinis Messe-Stationen. Vor dreizehn Jahren begannen Nicola Hümpel und Oliver Proske, Gründer des Kollektivs von «Ganzkörperpoeten», ihre Ästhetik zu entwickeln - ausgehend vom Bauhaus Dessau. Erste große Resonanz erhielten sie in Berlins Sophiensälen mit dem Zyklus «Menschenbilder». Nach Performances zu Schubert und Händel sind sie bei jener Messe des alten Maestro Rossini gelandet, die dieser 34 Jahre nach seiner letzten Oper komponierte. Melodische Inbrunst und Eleganz werden darin nonchalant mit dem Augenzwinkern simpler Begleitfiguren an zwei Klavieren serviert. Dazu zimmern sich Nico and the Navigators eine Art Theatertheologie: Bilderstreitszenen um Glaube, Irr- und Aberglaube, um das Zweifels- und Zwiespaltgebot, Fragen nach Religion, Ritual, Humanität, Sehnsucht und seelische Gewalt in christlicher Utopie - Witz inbegriffen. Solche „Glaubensbekenntnisse“ wollen nichts beantworten, nur Fragen stellen. Konzept und Regie Nicola Hümpels schaffen auf der durch Requisiten definierten Bühne Oliver Proskes einen Reigen scheinbar alltäglicher Menschen in kunstvoll stilisierten oder trashig frech ausufernden Bildern und Sketchen, die die Messtexte vom «Kyrie eleison» bis zum «Agnus Dei» nicht verdoppeln und aktualisieren, sondern kontrapunktieren, assoziativ zerfasern. Bewegung dominiert alles: Vier Gesangsolisten und acht Chorsänger sind ständig unterwegs, sogar die drei Instrumente, zwei Klaviere (SooJin AnJou, David Zobel) und das Harmonium (Jan Gerdes) werden auf der Bühne hin- und hergefahren. Selbst der agile britische Dirigent Nicholas Jenkins, früher Assistent Marc Minkowskis, wechselt die Standorte, lässt sich in die «Handlung») hineinziehen. Zum Prinzip der Truppe gehört das Improvisieren, trainiert in Übungen und Workshops: Gesangsstimme, Rollenspiel, Individualität sind gleich wichtig. Oft schieben sich zwischen Rossinis Messteile Abschnitte, in denen die Figuren als Instanzen von Lebens- und Glaubenssituationen agieren: ein Priester, Psychiater, Schamane, ein Rationalist oder Wissenschaftler, ein heruntergekommener Mafioso, eine seraphische Engel-Figur in leuchtendem Rot (die mit gelenkigen Tanzschritten bizarr wirbelnde Yui Kawaguchi): Sie alle sind Sinnbilder der Gespaltenheit menschlicher Existenz, der Ambivalenz, der Gefühlsabgründe. Es ist die choreografische Leichtigkeit in der Fülle ernster Rätselbilder, die die Produktion spannungsvoll und kurzweilig macht - und bei aller ästhetischen Leidenschaft unterhaltsam. Und es ist Rossinis fließende, kunstvolle, ehrliche, scheinbar heitere Musik, die diese Sinnsuche in einem aufgefächerten Bilderbogen rhythmisiert. Religionsphilosophie in Bewegung, Tanz auf den Projektionsflächen des Agnostizismus, Imaginationen der Verstörung im perfekten Timing.

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