„Außer Kontrolle“ lautet das Motto der Münchener Biennale 2014, der letzten unter der künstlerischen Leitung von Peter Ruzicka. Aber für die Uraufführungs-Folge von Dieter Schnebels „Utopien“ und Detlev Glanerts Musiktheater „Die Befristeten“ könnte das Thema „Utopie“ einen recht guten Untertitel abgeben. Darunter fallen ja nicht nur all jene Menschheitsträume von glücklichen Inseln und gesellschaftlichen Idealformen, die seit Thomas Morus‘ Initialwerk die Kulturgeschichte durchziehen, sondern auch die Schreckbilder einer inhumanen Zukunft von Samjatin, Bradbury, Orwell oder Hume. Auch Elias Canettis Drama „Die Befristeten“ ist eine solche „Dystopie“. An ihr entzündet Glanerts Musiktheater, das er gemeinsam mit der Offtheater-Regisseurin Nicola Hümpel und ihrer Theatertruppe Nico and the Navigators entwickelt hat. 1988 hatte Glanert mit seiner ersten Oper „Leyla und Medjnun“ die erste Biennale überhaupt eröffnet und kehrt jetzt zum Ort dieses doppelten Anfangs zurück. Und dieses Projekt, das die Biennale gemeinsam mit dem Münchner Residenztheater in Auftrag gegeben hat, und das am „Resi“ auch produziert wurde, unterscheidet sich grundlegend von den bislang bekannten Werken dieses an vielen Häusern erfolgreichen und vielgespielten Komponisten, der so wunderbar für menschliche Stimme schreiben kann – und hier vollkommen auf Gesang verzichtet. Wie viele Dystopien kommen auch „Die Befristeten“ im Gewand einer perfekten Welt daher: Den Menschen ist ihre Lebenszeit von Geburt an zugemessen, jeder trägt in einer Kapsel sein Geburts- und Todesdatum am Hals und die Zahl seiner Lebensjahre im Namen. Allerdings darf hier nur jeder selbst den eigenen Geburtstag kennen, so dass die anderen bei einem Menschen mit dem nüchternen Namen „Fünfzig“ zwar wissen, wie viele Jahre er leben wird, aber nicht, welches sein aktuelles Alter ist und wann sein Todeszeitpunkt sein wird, sein „Augenblick“, wie es im Stück heißt. Er selbst aber kann sich sein Leben entsprechend seiner zuverlässig bestimmten Lebenserwartung einrichten, es gibt keinen überraschenden Tod, keine abgebrochenen Lebensentwürfe, keine tragisch vereinsamenden Partnerschaften. Das Leben ist perfekt planbar. Aber wie in vielen Dystopien gibt es auch hier den einen, der gegen die schöne neue Welt aufbegehrt, weil er die Lüge und Sterilität darin spürt. Indem er herausfindet, dass die Kapseln leer sind und damit den „Kapselan“ genannten Großverwalter des pünktlichen Sterbebetriebs als Manipulator entlarvt, bringt er das System zum Einsturz – teils zur Freude, teils zum Entsetzen der fürsorglich Manipulierten. Die Stärke von Canettis Text ist seine kalkülhafte Strenge. Er setzt nur so viele Axiome wie zur Durchführung des dramatischen Gedankenexperiments nötig, das heißt: Er kümmert sich jenseits dieses Experiments wenig um die Charakterisierung der Figuren und die Tragfähigkeit seiner Axiome. Leider sieht Nicola Hümpel das aber als Schwäche an und belädt Canettis Kalkül mit wohlfeilen politisch korrekten Text-Sottisen wider den Fitness-Kult, die Wellness-Hysterie und die Hybris der (Gen-)Medizin. Auch das Flüchtlingsleid vor Lampedusa wird nicht ausgelassen. Das ist das eine Manko des Abends. Das andere liegt in Glanerts Musik und ist zumindest im experimentellen Anspruch sogar ehrenwert. Glanert hat den Prozess des Musiktheater-Komponierens umgekehrt: Statt seine Musik zu schreiben und es dem Regisseur zu überlassen, wie er damit klarkommt, hat er einen Großteil seines musikalischen Materials erst während des Probenprozesses gemeinsam mit den Navigators sowie dem sich vorzüglich in diesen Arbeitsprozess fügenden Münchner Instrumentalensemble piano possibile entwickelt. Genauer: Die Musik folgt im Arrangement ihrer Versatzstücke und teils auch in der Komposition der ebenfalls erst im Probenprozess vollzogenen Text- und Stückentwicklung – was zur Konsequenz hat, dass sie kaum einen eigenen formalen Zusammenhang entwickeln kann. Sie untermalt, manchmal kontrapunktiert sie auch. Und wenn man komponierend der Aktion folgt, dann landet man halt auch schnell mal bei allzu naheliegenden Allusionen: romantische Elegien für empfindsame Szenen, softer Blue-Jazz, wenn es um Wehmut geht, Dissonanzen für Verzweiflung und Aggression und die jazzig-repetitiven Figurationen für die Hektik. Glanerts Vorgehen mag für einen Opernkomponisten ungewöhnlich sein. Aber bei avancierter Schauspielmusik ist das Primat der Szene normal. Und da hier tatsächlich alle Texte – und es sind wahrlich nicht wenige! – gesprochen werden und man also eher ein Melodram als eine Oper erlebt, bleibt die Musik genau da auch stecken: im Sekundären. Gleichwohl hat dieser Abend, dem das rokoko-prächtige und doch intime Cuvilliéstheater einen pittoresk kontrastierenden Rahmen gibt, als theatrales Gesamtereignis starke Momente. Das liegt vor allem an der theatralen Choreographie, die Hümpel auf Oliver Proskes mit Plastikfolien vermüllter, ewig rotierender Endzeitbühne entfaltet, die bis auf ein Architektur-Versatzstück mit zwei Portalen leer ist: eine Kunst-Drehscheibe zur Präsentation einer künstlichen Welt. Wie da gesellschaftliche Einstellungen – Dünkel, Beflissenheit, Systemtreue, Verunsicherung, Aufbegehren, Neid, Schmeichelei – zu Körperhaltungen stilisiert werden, das ist stark: ein virtuoses Bewegungstheater, das Hümpel mit viel Gefühl für bildhafte Tableaus auf die Bühne stellt. In all seinen Verrenkungen – wunderbar die akrobatisch schwebenden Tanztaumeleien der zartgliedrigen Yui Kawaguchi – und slapstickenden Karikaturen ist es gar nicht so weit weg von Matthias Rebstocks Schnebel-Exerzitien tags zuvor. In der nuancierten und pointierten Sprachbehandlung allerdings waren die Stuttgarter Vocalsolisten den Navigators um Lichtjahre voraus. Glanerts Musik umspielt und umschmeichelt diese Endzeit-Szenarien mit teils geradezu demütiger Dezenz, ausgesprochen stimmungsvoll und theaterdienlich. Dass viele dieser verzweifelt komischen, schreiend trostlosen, leise tristen Szenen so stark wirken, ist auch dieser Musik zu danken, die die piano-possibile-Musiker an Saxophon, Klarinetten, Viola, Cello, Kontrabass, Keyboards, Gitarre und Schlagzeug unter der Leitung von Heinz Fried subtil und atmosphärisch umsetzen. Bedenkt man, was dieser Komponist alles kann, muss man dass als sehr bewusste Zurücknahme werten – und wird es keineswegs bedauern, dass er als nächstes Projekt wieder eine auskomponierte Oper auf der Agenda hat.

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