Ab ins Kloster
Kirill Petrenko führt in der Berliner Philharmonie mit singenden und musizierend Nachwuchskräften Puccinis «Suor Angelica» auf. Im Mittelalter waren Klöster Träger der Zivilisation, Bewahrer antiken Wissens, Inseln von Bildung in einem Meer des Analphabetismus. Wer im Kloster lebte, hatte es nicht am Schlechtesten getroffen, war versorgt, einigermaßen sicher, geboren in einer Gemeinschaft. Schon im Zeitalter muss das lange vorbei gewesen sein. Mit seinem 1917 entstandenen Operneinakter «Suor Angelica» wollte die für ihn höchste Form der Liebe, die Mutterliebe, ehren. Er schuf aber auch ein eindringliches Dokument über die geistige Erstarrung, die hinter Klostermauern herrschte. Die Handlung ist grässlich: Angelica wird gezwungen, Nonne zu werden. Erst nach sieben Jahren erfährt sie, dass ihr uneheliches Kind gestorben ist. In höchster Verzweiflung mixt sie einen Gifttrank - und darf noch glücklich sein, dass die Großmutter sie vor der ewigen Verdammnis rettet, die ihr als Selbstmörderin gedroht hätte. Zwänge allerorten, permanente Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, immer wird Reue gefordert. Eignet sich ein solcher Stoff für Nachwuchsmusiker? Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker sind dieser Meinung und führten das Stück - für das sich Puccini vom Klosterleben seiner Schwester Iginia inspirieren ließ und das eigentlich den Mittelteil von «Il Trittico» bildet - Anfang Februar halbszenisch in der Berliner Philharmonie auf, unter dem Titel «Faith to Face». Es ist das erste Education-Projekt des neuen Chefdirigenten. Nico and the Navigators-Regisseurin Nicola Hümpel gibt sich viel Mühe, um die Relevanz der Geschichte für Heute zu betonen - als Erzählung über Menschlichkeit in unmenschlicher Umgebung. Vor allem polstert sie die Nebenrollen der anderen Nonnen kräftig auf. Komponist Matan Porat hat einen Prolog geschrieben und sitzt selbst am Klavier, er gibt jeder der Frauen (gesungen von Studierenden der beiden Berliner Musikhochschulen) eine Minute Zeit, ihre Figur auf einem Steg gestisch zu präsentieren (Choreografie: Yui Kawaquchi). Gerade in diesem Porträts erreicht Hümpels Inszenierung einen hohen Grad an Lebendigkeit, kommt sie besonders nah an unsere Gegenwart heran. Was auch die große Videoleinwand befördert, auf die das Geschehen live projiziert wird. Petrenkos Gestik ist ungemein weich, fließend, er erzielt mit den Instrumentalisten der Karajan-Akademie einen schlanken, irisierenden, dynamisch allerdings recht eingeebneten, weitgehend risikoarmen Sound. Ein gutes Klangbett für den zentralen Konflikt zwischen Angelica (Ann Toomey) und der Fürstin (Katarina Dalayman), die zugleich ihre Tante ist und ihr, beiläufig fast, die fürchterliche Nachricht vom Tod des Sohnes überbringt. Als Education-Projekt ist «Faith to Face» durchaus gelungen. Die Inszenierung wird modern und schlüssig, sie bindet auch den Nachwuchs des Philharmoniker-eigenen «Vokalhelden»-Chors ein. Aber auch an diesem Abend wird das Libretto nicht umgeschrieben. Wieder einmal dreht sich alles, wie so oft im Musiktheater, um ein fürchterliches Frauenschicksal. Die Titelheldin in Benjamin Brittens «The Rape of Lucretia», einer Oper, die das Deutsche Symphonie-Orchester wenige Tage zuvor in einem ähnlichen Nachwuchsprojekt in Berlin aufgeführt hatte, ergeht es kaum besser. Die Arbeit mit dem musizierenden und singenden Nachwuchs bedeutet eben nicht automatisch, dass auch neue, zukunftsweisende Stoffe verhandelt werden.
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