GANZKÖRPERPOETEN Die Musiktheaterkompanie Nico and the Navigators feiert ihr 25-jähriges Bestehen
Wo bist du, mein gelobtes Land, /Gesucht, geahnt und nie gekannt? Ich wandle still und wenig froh, / Und immer fragt der Seufzer: wo? / Es bringt die Luft den Hauch zurück: «Da, wo du nicht bist, dort ist das Glück!» So heißt es, unter drängender Achtelbegleitung, in Franz Schuberts «Der Wanderer» - ein Lied, so vergeblich nach Licht drängend wie ein nebelverhangener Novembertag. Für Nico and the Navigators, seit den frühen Nullerjahren Innovatoren der freien Theaterszene, markierte es im Jahr 2006 den Aufbruch in die Welt des Musiktheaters.
Unter dem Titel «Wo du nicht bist» machte sich die Kompanie auf die Suche nach dem Glück und verwob Schuberts Lieder für die Bregenzer Festspiele zu einer postdramatisch-poetischen Collage aus Dialog, Bewegung und Musik. Die Instrumentierung war eigenwillig: Die österreichische Musicbanda Franui arrangierte das Ganze für Violine, Hackbrett, Zither, Saxofon, Posaune und Tuba.
«Von Anfang an wurden unsere Arbeiten für ihre Musikalität gelobt, die Figuren folgten einer eigenen, inneren Melodie», erzählt Nicola Hümpel, die das Ensemble seit 1998 gemeinsam mit Bühnenbildner Oliver Proske leitet. Schon damals war Musik fester Bestandteil bei den Navigators. Den Durchbruch brachte im Jahr 2000 eine Theaterperformance über die erniedrigende Banalität der Corporate World. «Eggs on Earth» kam mit nur wenigen Worten aus, dafür fand umso mehr Musik statt- von Chopin bis zu den Beatles. Dem Publikum gefiel's: In langen Schlangen standen die Menschen vor den Sophiensälen, wo Nico and the Navigators als Artists in residence wirken.
Seither unternahm die Kompanie vermehrt Ausflüge ins Operngenre Für die Händelfestspiele in Halle (Saale) erschuf sie die rauschende Barockfantasie «Anaesthesia», changierend zwischen Vanitas und frivoler Lebenslust; mit einer inszenierten Fassung von Rossinis «Petite Messe solennelle» wo Darsteller Weihwasser spuckten und um ihr Seelenheil tanzten, begab sie sich augenzwinkernd auf spirituelle Sinnsuche; und in Kooperation mit der Deutschen Oper Berlin wagte sie sich 2011 an Gustav Mahler. Spätestens mit «Mahlermania» hat der navigatorische Geist auch die staatlich finanzierten Kulturinstitutionen infiltriert.
Die Grenzen verschwimmen auch musikalisch. Ob gefällige Barockarie oder tiefsinnige Popbalade- Nico and the Navigators unterscheiden nicht zwischen den Stilen. Ihre Darsteller, allen voran Ted Schmitz, Kompanie-Urgestein und verblüffende schauspielerisch-sängerische Doppelbegabung, singen Henry Purcell ebenso klangschön und eindringlich wie Kurt Cobain. «Am Ende erzählen beide von Einsamkeit und Sehnsucht, von Liebe und Angst», sagt Hümpel. Musik ist eben das Mittel, um von den Dingen zu sprechen, von denen man eigentlich schweigen sollte; Genrefragen sind da zweitrangig. So entsteht eine Synergie, die nicht nur das Denken, sondern auch den Körper befreit.
«Wir machen unsere gesamte Arbeit im Musiktheater auch, um die teilweise immer noch antiquierte Körpersprache im klassischen Betrieb in die Gegenwart zu führen»,erklärt Nicola Hümpel. Bei Nico and the Navigator wird sich frei improvisierend gewunden und fallengelassen, sich mit und durch Musik bewegt. Aus Körper, Klängen, Worten, Gesten und Tanz entsteht ein organisches, zutiefst menschliches Ganzes. Darsteller verschwinden nicht hinter der Figürlichkeit einer Rolle, sondern treten als hellwache verletzliche Performer in den Vordergrund. Oft wird ihr Mienenspiel als zusätzliche Sinnebene auf einer Leinwand vergrößert. Der Pressespiegel urteilt: Nico and the Navigators sind Ganzkörperpoeten. Für ihre Verdienste wurde das Ensemble 2011 mit dem George-Tabori-Preis und 2016 mit dem Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste ausgezeichnet.
Auch zukünftig will das Ensemble auf Tuchfühlung mit menschlichen Abgründen gehen: Die Jubiläumsproduktion «sweet surrogates» wirft einen skeptischen Blick auf das Thema Rausch und Betäubung - ein Unterfangen, das der Schlagader der Wirklichkeit gefährlich nahekommt. «Ist es möglich», fragt Nicola Hümpel, «das Bewusstsein ohne Risiken und Nebenwirkungen zu erweitern oder zu betäuben? Kann man der Schwerkraft entkommen, ohne den Absturz zu riskieren? Und ist nicht auch die flüchtige Kunst ein süßes Surrogat für garantiert tödliches Leben? Die nach der Pandemie ersehnte Euphorie ist ausgeblieben, neue Krisenerschüttern die Welt - und die Erlösung in Ekstase scheint wünschenswerter denn je.»
Scharfsinnige Gesellschaftsanalyse auf der einen und seelenzerfetzende Poesie auf der anderen Seite: Für Nico and the Navigators ist das kein Widerspruch.
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