25 Jahre Nico and the Navigators – eine ziemlich verrückte Truppe

Im Oktober 1998 gastierte eine völlig unbekannte Gruppe in den Berliner Sophiensaelen. Nico and the Navigators, gegründet am Bauhaus Dessau, zeigten im Hochzeitssaal ihre Produktion „Ich war auch schon einmal in Amerika“. Schnell verbreitete sich die Kunde, dass hier ein völlig neue Bühnenästhetik zu bestaunen war. Und bald standen die Zuschauer Schlange bis in die Sophienstraße. „Es war unglaublich!“ sagt Nicola Hümpel rückblickend. „Es war die Nachwendezeit. Die Stadt war begierig nach Projekten, die das damalige Lebensgefühl spiegelten.“


Kongeniales Duo: Nicola Hümpel und Oliver Proske


An den Sophiensaelen startete die Gruppe um die Regisseurin Nicola Hümpel und den Bühnenbildner Oliver Proske richtig durch. Hier erarbeitete sie den Zyklus „Menschenbilder“: In „Lucky days, Fremder!“ (1999) ging es um Rituale des Abschieds (1999), „Eggs on Earth“ (2000) thematisierte die Zwänge der Arbeitswelt , in „Lilli in putgarden“ bekamen die Dinge ein wundersames Eigenleben (2001). Es war eine ziemlich verrückte Truppe aus lauter Individualisten, die Hümpel um sich geschart hatte: begabte Laien wie Martin Clausen und Patric Schott und der Ex-Tänzer Lajos Talamonti gehörten dazu, aber auch Ex-Kommilitonen Nicos von der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg.


Hümpel hatte sich dort offiziell für Industrial Design eingeschrieben, sie hat aber vor allem Plastiken und Installationen gemacht und Performances entwickelt. Dort begegnete sie Oliver Proske, einem Schüler des Design-Papstes Dieter Rams. Dass das Theater von Nico and the Navigators so anders ist, hat auch damit zu tun, dass die beiden Köpfe von der Kunsthochschule kommen. Als „Designer-Theater“ wurde ihre Ästhetik manchmal bezeichnet, doch das trifft es nicht. Die Suche nach der Genauigkeit der Form ist zwar charakteristisch für ihre Arbeit, doch es geht nie nur um Oberflächen-Effekte.


Die Methode: Improvisation setzt Verborgenes frei


Auf die Frage nach prägenden Einflüssen nennt Hümpel den Maler und Regisseur Achim Freyer, den sie Anfang der 1990-er am Bauhaus Dessau kennenlernte. Freyer ist bekannt für sein genreübergreifendes Bildertheater. Hümpel hat einiges von seiner Methode übernommen, dies aber zu ihrer ganz eigenen Arbeitweise weiterentwickelt, weil sie die Figürlichkeit nur bedingt interessierte. „Mich hat ja immer der emotionale Kern dahinter interessiert und nicht die Form. Die Form war sozusagen nur das Vehikel, in die Seele einzutauchen oder vorzudringen, durch Reduktion, Verlangsamung oder Beschleunigung etwas frei zu setzen, was in einer normalen Reproduktion einer Emotion niemals passieren würde.“


Schon als kleines Mädchen hat Nicola Hümpel die Menschen in ihrer Umgebung aufmerksam beobachtet. Ihr sei immer aufgefallen, wenn etwas nicht stimmte, wenn die Geste nicht zur Stimmlage passte oder die Worte nicht zu den Augen. Dieser Verhaltensforscher-Blick prägt auch ihre Arbeitsweise, die sie als angeleitete Improvisation bezeichnet. Sie beginnt die Improvisationen mit Aufgaben oder kleinen Motiven. Bewegungsabläufe, Gestik und Mimik werden dann seziert, neu miteinander kombiniert und überzeichnet. Seit 14 Jahren lehrt sie diese Methode auch an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Sie freut sich immer,wenn sie im Fernsehen einer ihrer ehemaligen Studierenden sieht, der ihre Techniken anwendet. Bei den Navigators hat sie damit manchmal ein komisches Talent herausgekitzelt, von dem der Spieler nichts ahnte. „Ich glaube, so hat jeder Navigator auf seine Weise diesen Anteil in sich gefunden, den er im Leben nicht lebt, aber auf der Bühne.“


Die Protagonisten sind Helden des komischen Scheiterns


Zerzaust die Frisur; adrett das Kostüm: In den frühen Stücken waren die Figuren immer recht verzagte und verwirrte Zeitgenossen, Diese Helden des komisch-anmutigen Scheiterns katapultierten sich in alle möglichen Schräglagen und stürzen sich in kuriose Kommunikationsrituale. In den Szenen-Collagen werden die Absurditäten des Alltags durchgespielt. Die multifunktionalen Bühnenräume, die Oliver Proske schuf, waren immer Mit- und Gegenspieler. Das streng rationale Design bildete einen Kontrast zu den menschlichen Unzulänglichkeiten. Berühmt sind die Navigators auch für die krytischen, sinnverdrehten Sätze. Einzeiler wie „Und warum am Abhang die Herkunft verleugnen?“ oder „Meine Zwickmühle steht auf der Kippe.“


Nico and the Navigators haben im Laufe der Jahre einen ganz eigenen Stil entwickelt. Natürlich gab es immer wieder Durststrecken. Aber die Gruppe war einfach zu erfolgreich, um aufzuhören. Zudem hatte sie ein Kreis prominenter Unterstützer, der sie stets anfeuerte weiterzumachen. Einmal hat Nicola Hümpel aber doch daran gedacht, aufzuhören. Noch eine Produktion wollte sie machen und sich dafür alle Freiheiten nehmen; sollte sie scheitern, würde sie danach die Kompanie auflösen. „Kain Wenn & Aber“ (2003) wurde dann aber ein großer Erfolg.


Ein Schubert-Abend zusammen mit der Musicbanda Franui


Der Schubert-Abend „Wo Du nicht bist“ (2006), der in Kooperation mit der österreichischen Musicbanda Franui entstand, markiert einen Wendepunkt. Vorher machten Nico and the Navigators Bildertheater mit Musik, von nun an experimentierten sie mit neuen Formen des Musiktheaters. Dadurch stießen mehr professionelle Sänger, Tänzer und Musiker zur Truppe. Zu den prägenden Protagonisten der zweiten Navigators-Generation gehören die japanische Tänzerin Yui Kawagutchi und der US-amerikanische Tenor Ted Schmitz. Ihre Arbeitsweise hat Hümpel nun etwas modifiziert. Aber auch bei der Zusammenarbeit mit Sängern geht es ihr darum, eine charakteristische Körperlichkeit fernab aller Opernkonventionen zu entwickeln. 


Phänomenal, als freie Gruppe so lange durchzuhalten


„Unser Ziel ist es, existenzielle Themen zwischen den Gattungen Gesang, Musik, Tanz und Schauspiel miteinander und auf Augenhöhe miteinander zu verhandeln“, beschreibt Hümpel den gemeinsamen Ansatz.

Für das Ensemble prägende Produktionen waren der Händel-Abend „Anaesthesia“, die Rossini-Produktion „Petite Messe Solennelle“ und „Silent Songs“ …

Nicola Hümpel hat auch an der Staatsoper Stuttgart und Hannover inszeniert. Nur noch an großen Häusern zu arbeiten, hat sie aber nie verlockt: „Ich weiß, dass ich ausschließlich an festen Häusern meine Arbeit nicht machen könnte. Das ist eine Handschrift, die darauf basiert, dass die Leute, die da mitmachen, das auch wollen.“


Als freie Gruppe 25 Jahre durchzuhalten, ist schon phänomenal. Deswegen wollen die Navigators ihr Jubiläum auch ausgiebig feiern. Im Februar zeigte die Truppe als einmalige Aufführung „Lost in Loops“ im Konzerthaus.Nun entwickeln sie mit „sweet surrogates“ eine kammermusikalische Fassung des Stücks und widmet sich erneut dem Thema Rausch und Sucht. Das Stück wurde wieder in kollektiver Recherche erarbeitet.


Dass Nico and the Navigators so erfolgreich sind, liegt auch daran, das Nicola Hümpel und Oliver Proske so gut funktionieren als Künstlerpaar. „Wir sind in manchen Sachen sehr diametral, also haben ganz unterschiedliche Fähigkeiten und deswegen hat das wahrscheinlich auch geklappt“, sagt Proske mit trockenem Humor. Er hatte anfangs nichts am Hut mit Theater,wollte nur mal was für seine Freundin bauen. Proske ist auch für die Geschäftsführung und die technische Leitung zuständig. Der Blick auf die Zahlen war stets ernüchternd. Aber die Arbeit habe ihn immer beflügelt.


Der permanente Kampf um eine angemessene Förderung brachte das Künstlerpaar manchmal an den Rand der Verzweiflung. Doch nun blicken Nicola Hümpel und Oliver Proske optimistisch in die Zukunft. Denn Nico and the Navigators sollen nun wieder einen Haushaltstitel bekommen. Den hatten sie schon einmal, er wurde ihnen aber wieder aberkannt unter dem Kultursenator Lederer. Was damals auch einige Kulturpolitiker auf die Palme gebracht hat.


Endlich zuverlässige Förderung, noch ein Grund zum Feiern


Auch andere Kompanien, die sich über viele Jahre bewährt haben, sollen ab 2024 eigene Haushaltstitel bekommen. Für Hümpel ist dies ein historischer Schritt. „Nach einer langen Karriere in der Welt der ,Freien' ist es von nun an möglich, auch als Kompanie ohne Haus eine feste Berliner Institution mit Planungssicherheit zu werden. Das ist besonders im Musiktheater wichtig, da wir lang im Voraus planen müssen.“ Grund zu feiern gibt es jedenfalls. In „sweet surrogates“ suchen Nico and the Navigators nun nach dem kollektiven Rausch. Die Kunst ist hier ein Ersatzstoff mit garantiert euphorisierender Wirkung.




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