Das Motto der 14. Münchener Biennale heißt „Außer Kontrolle“. Die jüngste Uraufführung verkörpert es perfekt, aber auch das genaue Gegenteil davon. „Die Befristeten“ nach Elias Canetti handelt von einer total kontrollierten Welt, andererseits haben Komponist Detlev Glanert und Nicola Hümpel (Konzept, Regie, Kostüme) einen riskanten Produktionsprozess hinter sich: Weder übte eine fertige Partitur die zeitlich unverrückbare Kontrolle über den Ablauf dieses „Musiktheaters“ aus, noch dienten die Noten der bloßen Untermalung eines logischen Librettos. Vielmehr entstand das im Cuvilliés-Theater umjubelte anarchische Bühnenstück über die Programmierbarkeit der Gesellschaft als „Work in Progress“. Nicola Hümpel schälte aus dem Canetti-Werk Situationen und Figuren heraus, passte sie dem Charakter der vom Residenztheater zu Verfügung gestellten fantastischen Schauspieler an und verdichtete dies zu effektvollen Szenen. Im ständigen Kontakt zu Komponist Detlev Glanert näherten sich die textlichen und musikalischen Vorgaben sukzessive an, man ließ sich wechselseitig inspirieren. Und Glanert reagierte flexibel immer wieder auf neue Ideen, Assoziationen. Die Menschen haben keine Namen mehr, nur noch Nummern Canetti schrieb „Die Befristeten“ 1952. NSA und die Entschlüsselung des Genoms waren noch in weiter Ferne, Orwell, Canetti, Hermann Kasack aber mit ihren ungemütlichen Visionen schon zur Stelle. In der Welt der „Befristeten“ gibt es keine Ungewissheit mehr über Verlauf und Dauer der Biografie, hat der Tod seinen Schrecken verloren. Im Leben auf dem Reißbrett haben die Menschen keine Namen mehr, sondern Nummern: 50, 88, 17 oder 30 bedeutet auch die zugeteilte Lebenszeit. Karrieren, Beziehungen, nicht zu vergessen Versicherungen und wirtschaftliche Schwerpunktsetzungen sind bei solchen Datenmengen besser plan- und optimierbar. Seinen Schrecken verloren…? Canetti selbst lässt sein Spiel mit dem Determinismus offen. Nicola Hümpel aber, die Originalpassagen mit eigenen Texten aktualisiert, radikalisiert, auch mit schwarz-kabarettistischen Reizen würzt, schlägt daraus Funken eines mal subtilen, mal schneidenden Horrors, und dies mit einer gehörigen Freude am prallen theatralischen Volleinsatz. Ihre „Brave New World“ gerät aus den Fugen: Weil alles determiniert ist, laufen urmenschliche Leidenschaften und Spontaneität ins Leere; das Personal zuckt nur noch in sinnlosen Verhaltensschablonen der alten „unwissenden“ Welt: Liebesschwüre, Freundschaftsgebärden, gesellschaftliche Rollen enden auf der trashigen Drehbühne im Kokon eines dichten Bodennebels. Zielrichtung unbekannt. Doch es war eine Gelegenheit für saftiges Schauspielertheater, gesungen à la Oper wird nicht. Ein toller musikalischer Streich Detlev Glanert (Jahrgang 1960), mit dessen Oper „Leyla und Medjnun“ die erste Münchner Biennale 1988 eröffnet wurde, steuert eine Musik bei, die die drastischen Aktionen mal dezent-lauernd begleitet, mal auflädt oder auch konterkariert. Das Ensemble piano possibile unter Heinz Friedl (Klarinetten, Saxofon, Klavier/Keyboard, Schlagwerk, Viola/Cello/Bass) realisiert diese Musik mit brillanter Präzision: Hinreißend süffige Walzer-, Polka-, Zirkus- oder Jazz-Anmutungen scheinen wie Déjà-vus aus der alten Welt das anarchische Geschehen auf eine bizarre Ebene zu heben, flirrend-duftige Motorik, wenige scharf gesetzte Explosionen landen punktgenau – ein toller musikalischer Streich.

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