Angst vorm Selbst

"Nico and the Navigators" in der Muffathalle Irgendwann muss es im Leben von Nicola Hümpel einen Punkt gegeben haben, da schaute sie hinter die Oberfläche der sie umgebenden Welt. Und sie sah ein Grauen. Sie sah Angst und Neid und Missgunst und ein verzweifeltes Klammern an ein Funktionieren, das als scheinbar notwendige Voraussetzung zum Überleben begriffen wurde. Nun kam ihr aber gleichzeitig die Erkenntnis, dass man als künstlerisch veranlagter Mensch, dem so ein Grauen aufstößt, sich vielleicht gerade dann einer nachhaltigen Wirkung beraubte, wenn man die Oberfläche einreißen und all das Hintergründige nackt auf, sagen wir mal, eine Theaterbühne stellen würde. Weil doch mit dem Verlust der uns umgebenden Oberfläche auch das dann ausgestellte Grauen lediglich irgendeines wäre, im Zweifelsfall eines, das mit herrschenden Lebenswelten nichts mehr zu tun hätte. Es ist die Zeit der Überdeutlichkeit, und Frau Hümpel ist ein Anachronismus. An den Kammerspielen liest Hamlet Michael Moore, am Gärtnerplatztheater findet sich die Butterfly in einem Kabarett verrotteter Alltagstypen wieder, am Residenztheater prallen mit Botho Strauß Ost und West mit der Geheimniskraft eines Grillabends aufeinander. Wird Theater im weiteren Sinne politisch, wird oft die Textvorlage so eindeutig wie die Inszenierung geradlinig. Kein Platz ist dann mehr für Geheimnisse, die spezifische Aussage lässt sich in jedem nur erdenklichen psychischen und physischen Zustand völlig uneingeschränkt begreifen. Doch was völlig klar vor dem Auge des Betrachters liegt, findet oft nicht den Zugang zum Herz. Und ein Hirn ohne Herz hat nunmal keinen Schmerz. Seit Nicola Hümpel 1998 das Ensemble "Nico and the Navigators" gegründet hat, waren die wunderlichen Unternehmungen dieser verhaltenshauptstädtischen Körpertheatertiere in aller Welt zu sehen, mehrfach auch in München, wo heute noch in der Muffathalle die aktuelle Produktion "Helden & Kleinmut" zu Gast ist. Diese wirkt auf den ersten Blick wie ein Entspannungsseminar für gestresste Wirtschaftsbosse. Die Bildwelten von Hümpel und ihrem Bühnenbildner Oliver Proske sind mit eisiger Präzision gezimmerte Durchgangsfoyers fragiler Menschen, deren Selbstbehauptung in Style und Pop kaum einen Reflex auf der Netzhaut hinterließe, wären sie nicht alle ein bisschen merkwürdig. Als kleinmütige Helden werben sie für ein "Leben ohne Tod und Sterben", als ständen sie mit dem Wachturm an der Straßenecke. Sie preisen den Segen von Lebensversicherungen und spielen Entleibung, Selbstverlust und Wahnsinn. Eigentlich sähe das alles schön aus. Die sechs Akteure sind schön. Die Kostüme sind schön. Die Bühne ist schön. Die Musik von zwei Musikern und von Band ist schön. Doch das Suchen nach dem Selbst ist vergeblich, es steckt wie ein Kloß im Hals der Angst, und am Ende bleibt von der zärtlichen Vorsicht nur ein Rauschen im Wind. Der Abend wandert einen schmalen Grat zwischen der Behauptung von Oberfläche und dem, was sie verbirgt, entlang. Welche Seite man sehen will, sehen kann, liegt am Zuschauer selbst.

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