Barocke Traumreise in das verlorene Paradies Arkadien

HALLE/MZ. Der Grabspruch kündet von glücklichen Tagen und spannt sich quer über den Bauch: "Et in Arcadia ego" steht auf dem Leib der Statue, der eine exotische Schöne hingebungsvoll die Füße poliert. Arkadien also heißt das verlorene Paradies - die Heimat von Hirten und Nymphen, die irgendwo im Nirgendwo liegt und nur mit einer "Anaesthesia" zu erreichen ist. Extrabreite Klangfarbenpalette Die "Barocknarkose", die Nico and the Navigators gemeinsam mit der Musicbanda Franui zum Auftakt der halleschen Händel-Festspiele präsentierten, ist ein außergewöhnlicher Tanz im barocken Korsett. Aus Opern wie "Admeto" und "Amadigi", "Rodelinda" und "Rinaldo", aber auch aus Oratorien wie "Belshazzar" und "Israel in Egypt" haben die Komponisten Markus Kraler und Andreas Schett die Melodien geborgt, die sie ihrer singulären Besetzung anverwandeln: Da schleift das Saxophon die Töne rund, schlappt der Kontrabass lässig durch das Continuo, liefert das Hackbrett seine Dulcismen. Über allem aber umarmen und bekämpfen sich Violinen und Trompeten, Kornett und Klarinette, Tuba und Akkordeon - eine extrabreite Palette von Klangfarben, die Händel bald im Jazz und dann wieder bei Hochzeit und Todesfall verortet. Gesungen freilich wird purer Barock - wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Der Sopranistin Theresa Dhouly wuchern fremde Finger wie Brauen über den Augen, während sie das "Bel Piacere" lobt, der Bariton Clemens Koelbl hängt kopfüber am Bühnenportal oder lädt sich eine Harpyie auf die Schultern. Und Terry Wey muss seinen wunderbar schmelzenden Countertenor wie ein paranormales Phänomen bestaunen lassen, während er "Piangerò" schmachtet - ein hinreißender, zarter Moment, in dem sich der Schöpfungsakt aus der Musik ereignet. Denn dies ist ja das eigentliche Thema der Inszenierung, mit der Nicola Hümpel und ihr Bühnenbildner Oliver Proske dem Neuen Theater Halle einen echten Export-Schlager beschert haben: die majestätische und animalische Kraft des Klangs, der Könige krönen und schüchterne Paare in rasende Bestien verwandeln kann, der Identitäten stiftet und Sinne raubt. Aus wechselnden Tableaux vivants, zu denen sich das Ensemble anfangs zusammenfügt, entfaltet sich das Pasticcio als Stück in Stücken. Da wird die dekadente Langeweile der reichen, einsamen Frau beschworen und die Verfertigung des Herrschers durch seine Untertanen gezeigt, da stört das echte Gefühl den kalkulierten Affekt und erzeugt Gesang buchstäblich eine Gänsehaut. Die Sprachen der Körper Es ist ein auch körperlich polyglottes Ensemble, das sich in dieser Koproduktion mit den Bregenzer und den Herrenhäuser Festspielen sowie mit dem Grand Théatre Luxembourg zusammengefunden hat. Da ist die stählerne Eleganz der Japanerin Yui Kawaguchi, die blitzschnelle Akuratesse des Italieners Alberto Spagone und die schüchterne Beiläufigkeit seines Landsmanns Filippo Andreatta. Und während die Belgierin Sylvie Merck einen stilbildenden Beitrag zur hysterischen Aufführungspraxis leistet, während Patrick Schott als fleischgewordener Stein des Anstoßes und als lächelnder Todesengel durch die Szene geht, mischt sich Adrian Gillot als somnambuler Conferencier in die pastellfarbene Gesellschaft. Angetan mit einer Hausmütze à la Händel und dem blasierten Tonfall eines echten Dandys, erzählt er von den Parallelen zwischen "Powder" und "Power" - und von den kostbaren "Tulips", die auch als "Two Lips" missverstanden werden können. Selbst wenn nicht jeder Premierengast jedes Wort dieser verrätselten Rezitative verstanden haben sollte - den tieferen Sinn hatte das Publikum offenbar erfasst. Und so gab es zur Mitternacht des ersten Tages einhelligen Jubel für das größte Wagnis, das Halles Händel-Festspiele in den letzten Jahren eingegangen sind. "Anaesthesia" ist eine schlafwandlerische Annäherung an den Geist der Barockmusik, eine Suche nach ihrem haltbaren Kern. Angesichts der Requisiten aber fühlt man sich an Emily Dickinson erinnert: "Hoffnung ist das Ding mit Federn."

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