Beethoven in bester Tanzform

Die diesmal sehr sommerlichen Musiktage in Hitzacker legen einen ungewöhnlichen Schwerpunkt auf den deutschen Komponisten Es begann damit, dass sich John Neumeier vor mehr als drei Jahrzehnten berufen fühlte, Bachs „Matthäus-Passion“ choreografisch auszuweiden: ein Akt schöpferischer Aneignung verjährten geistigen Eigentums, der später auch Händels „Messias“ und sogar Mahlers Symphonien treffen sollte. Dagegen verblich die lichtspielende „h-Moll-Messe“ Bachs, mit der Jeffrey Tate seine vorletzte Symphoniker-Saison eröffnete, zur überfälligen Reverenz an den optischen Zeitgeist. Der nämlich in dem Maße gedeiht, wie die Hörgeduld abnimmt. Mangels Erfahrung mit komplexeren Klangformen, die man nicht mühelos geschenkt bekommt, schwindet allenthalben das Vertrauen in die Fähigkeit gut komponierter Musik, sich ohne visuelle Nachhilfe verständlich zu machen und für sich selbst zu sprechen. Gewohnt, alles Komplizierte vereinfacht, alles Mehrdeutige versimpelt zu bekommen, wächst längst eine Generation musikalischer Analphabeten heran. Einer musikalischen Elite, die von Kindesbeinen an das Wechselspiel von Anstrengung und Beglückung erfuhr, steht eine Mehrheit ungeduldiger Konsumenten gegenüber, die den raschen Rausch ersehnen. Auch wenn es Oliver Wille, dem Intendanten der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, und seinen stillvergnügten Quartettpartnern nicht bewusst sein mag: Der Gedanke, sich mit einer Performance-Gruppe kurzzuschließen, die davon lebt, musikalische Energieströme in Körperbewegung, Tanz und Lichtspiel „umzusetzen“, könnte der Grundidee des langlebigsten bundesdeutschen Kammermusikfestivals entgegenwirken: das Ungeheuerliche großer Klangkunst akustisch erfahrbar zu machen. Zum Glück war das Eröffnungskonzert der 73. Musiktage dazu angetan, derlei Bedenken zu zerstreuen. Mit dem numerisch ersten und dem tatsächlich letzten der 16 Streichquartette Beethovens (die „Große Fuge“ op. 133 und die Umarbeitung der Klaviersonate op. 14,1 zum Streichquartett nicht mitgerechnet) umriss es die selbst gestellte Herkulesaufgabe der Festspielleitung, an neun Tagen das 28 Jahre umspannende Streichquartettschaffen Beethovens komplett abzubilden. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, strapaziert Oliver Wille derzeit nicht nur seine Stammformation, das Kuss Quartett, sondern auch Studierende seiner Hannoveraner Streichquartettklasse sowie Stipendiaten des Deutschen Musikwettbewerbs, die als „Preisträgerakademie“ eine Woche lang Erfahrungen auf und hinter der Bühne sammeln. Als Vorgeschmack auf das intermediale Beethoven-Projekt des Kuss Quartetts zum Jubeljahr 2020 lieferten sich Jana Kuss und Oliver Wille (Violinen), William Coleman (Viola) und Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) zu Festivalbeginn der 1998 am Bauhaus Dessau gegründeten Truppe Nico and the Navigators aus. Für Beethovens F-Dur-Quartett aus dem ersten Sechserwurf op. 18 – Frucht mühevoller Arbeit angesichts der kaum übertrefflichen Gattungsvorbilder Haydns und Mozarts – und Enno Poppes kurzweilige Variationenglosse „Freizeit“ (2016 dem Kuss Quartett gewidmet) noch seriös im Tuch, legten die vier nach der Pause nicht nur ihr Schuhwerk ab. Barfüßig und ihrer Quartettnoten ledig, überließen sie sich locker ortswechselnd ihrem Tongedächtnis, wobei nichts Geringeres als Beethovens letztvollendetes Streichquartett op. 135 auf dem Spiel stand. In welches sich nun eine Tänzerin von Gnaden einmischte: Yui Kawaguchi, die katzenhafte Seele der Nico-Truppe, eine federgelenkige Gliederpuppe, halb Gnom, halb Elfe. Von fern an die kultischen Tänze erinnernd, denen das japanische No-Theater entsprang, ließ sie die Stromstöße der vierstimmig durchbrochenen Satzkunst Beethovens durch ihre Sehnen zucken, um im abgeklärten Variationensatz „cantante e tranquillo“ das stilisierte Mondschiffchen zu besteigen, das zuvor schon die Violinen samt Bratsche an Bord genommen hatte. Ein Publikumserfolg sondergleichen, wie sich ahnen lässt. Beethoven dergestalt „vertanzt“: muss nicht, aber kann sein (um das rätselvolle Doppelmotto des Finalsatzes zu parodieren).

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