Beischlaf mit Humor

Zwischen Bernhard Langs Oper «Der Golem», uraufgeführt in Mannheim, und der Stuttgarter Neuproduktion von Philippe Boesmans' «Reigen» nach Arthur Schnitzler gibt es überraschende Querbezüge. Sie stochern hektisch in ihren Smartphones herum. Video-Einblendungen spiegeln ihre Gesichter. Schon bald aber werden die Porträts von einer Hand weggewischt: als ob sie selbst bloss Angebote und Produkte auf einem Display wären, je nach Bedarf zu nutzen – oder kurzerhand zu löschen. Eine starke Assoziation stellt Nicola Hümpel in den Raum bei ihrer Neuinszenierung der Schnitzler-Oper «Reigen» von Philippe Boesmans an der Stuttgarter Staatsoper. Denn Hümpel denkt damit die Gesellschaftskritik weiter, die schon die Vorlage von Arthur Schnitzler klar umreisst – ist sein Skandalstück von 1897 doch weit mehr als eine Studie über Promiskuität und Sex zwischen Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft; bei Schnitzler wird vielmehr die gestörte Sozialität des modernen Menschen entlarvt. Intimität und Sex An diesem Punkt setzen Hümpel und ihre Berliner Kompanie Nico and the Navigators an: Noch nie waren Pornografie und Sexualpartner derart schnell, anonym und ungehindert zu haben wie im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken. Die Vision Schnitzlers von einer totalen Entfremdung des nunmehr digitalen Ichs und der kollektiven Vereinsamung scheint sich erfüllt zu haben. Hümpel entwickelt ihre Diagnose in einem Kammerspiel – umso bezwingender, als sie sich zuvörderst für das Innere und Intime der Figuren interessiert. Videos, die sie erstmals integriert, zeigen die einzelnen Gesichter der Figuren, vergrössern wie Lupen ihre Reaktionen, fangen kleinste Regungen ein. Passend hierzu stellt die Bühne von Oliver Proske in erster Linie die Personen selber aus – wie in einem Panoptikum. Dabei profitiert die Inszenierung wesentlich von der einnehmenden Präsenz und dem glänzenden Spiel der Solistinnen und Solisten. Alle möglichen Gestalten vergnügen und verletzen sich hier: die Sängerin (Melanie Diener) und der Dichter (Matthias Klink), die Dirne (Lauryna Bendžiūnaitė) und der Soldat (Daniel Kluge), der Graf (André Morsch), der Gatte (Shigeo Ishino) oder die junge Frau (Rebecca von Lipinski). Manche von ihnen lässt Hümpel nervös herumzappeln, fast schon uniform und maschinell, womit die gestörten gesellschaftlichen Rollenbilder umso deutlicher werden. Damit verfolgt der Stuttgarter «Reigen» einen grundlegend anderen Ansatz als die jüngere «Reigen»-Oper, die der Österreicher Bernhard Lang für die Schwetzinger Festspiele 2014 kredenzt hatte. Während die Schwetzinger «Reigen»-Regie von Georges Delnon vorwiegend aufreizende Matratzen-Akrobatik in den Fokus rückte, geht es Hümpel um die verborgenen Sehnsüchte und Ängste dahinter. Wo vereinzelt absurde Kissenschlachten veranstaltet werden oder Ejakulate weit in den Theaterhimmel spritzen, wird die aktuelle und moralische Brisanz humorvoll gebrochen: Der Stuttgarter «Reigen» tappt auf diese Weise nicht in die simple Voyeur- und Sex-Falle. Damit schärft Hümpel nicht nur die Intention Schnitzlers, sondern auch die von Boesmans. So wie Schnitzler den Vollzug der Liebesakte durch Punkte aussparte, verzichtet Boesmans auf explizite Beischlafmusiken, etwa nach dem Vorbild des «Rosenkavalier»-Vorspiels von Richard Strauss oder der «Lady Macbeth von Mzensk» von Schostakowitsch. Überdies greift Hümpel die Personenführung auf, die in Boesmans' farbenreicher Musik angelegt ist. Ähnlich wie Lang arbeitet Boesmans im «Reigen» mit einer postmodernen Stilvielfalt. Doch während sich Langs Musik bald in beliebiger, quasiminimalistischer Redundanz erschöpft, nutzt Boesmans die Stilvielfalt, um die Figuren wirksam zu charakterisieren. Barocker Pomp, spätromantisches Pathos, Zitate oder Klänge der frühen Moderne: Das Repertoire des belgischen Komponisten ist reich. Dagegen bleibt bei Bernhard Lang die Stilvielfalt eher Selbstzweck. Darunter leidet auch seine neue Oper «Der Golem», die nun am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde, in einer dekorativen Regie-Installation von Peter Missotten. Die Vorlage bildet der gleichnamige, einst vielgelesene Roman von Gustav Meyrink, der 1915 erschienen ist. Hinter dem Golem verbirgt sich eine Kreatur, die alle 33 Jahre durch das jüdische Ghetto von Prag spukt. Sie erscheint dem Juwelier Athanasius Pernath (Thomas Berau), der prompt auf sonderliche Gestalten stösst – so beispielsweise den Trödler Wassertrum und seinen hasserfüllten Sohn (Alin Deleanu) oder die schöne Angelina (Astrid Kessler). Mit Klezmer- und Salonmusik, auch Pop- und Jazz-Klängen führt Langs Musik zwar in die jeweiligen Orte der Handlung, der Stoff selbst und die Figuren bleiben hingegen eintönig gezeichnet. Sogar im Vokalstil verzichtet Lang auf Differenzierungen, um stets zwischen Sprechen, Singen und Rezitieren zu changieren – vereinzelt gewürzt mit einem Schuss Lautmalerei. Das wirkt bald ähnlich austauschbar wie die ständigen Repetitionen, die zwar die Textverständlichkeit erhöhen, die Handlung jedoch allzu simpel herunterbuchstabieren. Dabei ist Meyrinks «Golem» nicht einfach ein Schauerroman, sondern basiert – seinerzeit höchst komplex – auf Erkenntnissen der modernen Traumpsychologie, orientalisch-okkulten Visionen, jüdischen Geheimlehren und nicht zuletzt auf der romantischen Phantastik eines E. T. A. Hoffmann. Sein und Schein Meyrink entwirft düstere Dämmerzustände des seelischen Innenlebens, bis sich die Grenzen zwischen Sein und Schein, Ich und Aussenwelt verwischen. Diese Mehrdeutigkeit bleibt in Langs Opernversion ungenutzt und ungehört – was die etwas pauschale musikalische Leitung von Joseph Trafton noch verstärkte. Dagegen glänzt Stuttgarts «Reigen» nicht zuletzt dank der mustergültigen Ausdifferenzierung von Boesmans' Partitur durch Sylvain Cambreling und das Stuttgarter Staatsorchester. Schon 1993 hatte Cambreling die Uraufführung der Oper am Brüsseler Théâtre de la Monnaie geleitet – seine Werkerfahrung und Hellhörigkeit kamen nun dieser wichtigen Neuproduktion zugute.

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