BERLIN / Radialsystem NICO AND THE NAVIGATORS „EMPATHY FOR THE DEVIL“
Böser, wohldosiert aufrüttelnder Opern-, Tanz- und Sprechtheaterreigen mit Arrangements von Purcell, Rameau, Händel, Tartini, Weber, Schumann, Tchaikovsky bis zu Bartók, Britten, David Bowie, Mick Jagger und John Lennon
„Viel besser, schlecht zu sein als schlecht zu scheinen, weil man doch ohnehin für schlecht gehalten wird, drum soll man sein, wie es die Ander’n meinen, Und Lust im Laster finden! Denn wer gut ist, irrt.“ Shakespeare Sonett 121 (Übertragung Andreas Hillger)
Nicola Hümpel hat vor fast 25 Jahren am Bauhaus Dessau das Ensemble „Nico and the Navigators“ gegründet, ab 1999 erfand diese nun in Berlin ansässige gewordene Musiktheaterkompanie eine ganz eigene, wundersame Ausdruckswelt. Das Team entwickelte eine hochpoetische, bildmächtige Theater- und Musiksprache, wie dies einst Erwin Pilpitz in Wien – 1973 gründete er zusammen mit der Bühnenbildnerin Ulrike Kaufmann das „Serapionstheater“- oder die von mir so verehrte Ariane Mnouckine – 1964 gründete sie das Théâtre du Soleil mit einem eigenen Theater, der Cartoucherie im Pariser Bois de Vincennes – taten.
Nächstes Jahr wird es zum 25. Jubiläum gemeinsam mit dem Konzerthausorchester Berlin ab 18. Februar die neue Produktion „Lost in Loops“ geben.
Bis zum vierten Adventsonntag fegten in einer mehr als gelungenen Wiederaufnahme von „Empathy with the Devil“ die kleinen Alltagsteufelchen und großen Zyniker, zwielichtige Gestalten und Oberschlaue, Dämonen und Wutbürger, Mephisto aus Gounods „Faust“ und Samiel in Webers „Wolfsschlucht“ über die Bühne des Radialsystems, eines ehemaligen Pumpwerks an der Spree.
Aber weil das Gute und das Böse so zwillingsgleich verbandelt sind wie schwarz und weiß, kalt und warm, Tag und Nacht, Sonne und Mond, good cop, bad cop, ja überhaupt furchtbar ambivalent und vielgestaltig scheint, muss dem Bösen im Menschen ein bestimmter Platz zukommen. Entweder ist der Mensch a priori böse, dann wäre es schnell fad, denn dann hätte die Schamlosigkeit uneingeschränkt Konjunktur und die Chose geränne zu einem dicken, unappetitlichen schleimigen Brei.
Nico und ihre Navigators hingegen stützen sich auf die These Rutger Bregmans und seinem optimistischen Credo „Im Grunde gut“ aus seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (Rowohlt Verlag Hamburg 2019). So etwas Ähnliches meinte auch Immanuel Kant, der im Menschen neben einem Hang zum Bösen eine Anlage zum Guten ortete. Können wir als freie Menschen so oder so handeln oder neigen wir dazu, zwanghafte bipolare Wurschteln zu sein?
Aus diesem Ansatz destilliert die Truppe mit einem bunten Reigen an Opernarien, Liedern, Popsongs, Gedichten und melodramatisch genutzten Instrumentaleinlagen ihr selbst so genanntes „Staged Concert“. Natürlich sind Gut und Böse Standpunkt- und Standortfragen, Täuschung und Selbsttäuschung deren zahlreiche Kinderschar.
Und so wählt das Produktionsteam (Nicola Hümpel, Andreas Hillger, Oliver Proske, Andreas Fuchs, Hendrik Fritze, Sophie Krause – die Musik habe ich nicht vergessen, sie kommt später) für die optische Umsetzung eine gebrochene Perspektive. Schauspieler, Sänger und Tänzer, allesamt pantomimisch auf Zack, spielen in und mit den seitwärts eingerichteten oder zentral am Boden der Bühnenmitte platzierten Kameras, die wiederum über eine Leinwand die Blicke und Gesten ins Auge des Publikums projizieren. Bildüberlagerungen und Doppelbilder stehen ganz im Sinne der hübschen Ambivalenz, wo das Böse unauffällig und unter bürgerlicher Maske seine perfideste Ausprägung zeigt: Zum idyllischen Chor aus dem Freischütz „Wir winden Dir den Jungfernkranz“ fällt ein Schlägertrupp über einen Mann her und ‚kugelt‘ ihn bis zum letzten Schuss: Sechse treffen, sieben äffen. Hannah Arendts Zuschreibung der „Banalität des Bösen“ oder zumindest des Anscheins der Banalität und ihre Einschätzung, dass das Böse keine Tiefe hat, auch keine Dämonie, sondern nur als Pilz an der Oberfläche wuchert, trifft das alles ziemlich gut.
In „Empathy for the Devil“ – ein „pathetisch-ironischer Gruß an die ‚Sympathy‘ der Rolling Stones“ – mischen sich in einer hochsinnlichen Performance Elemente des Bewegungs- und Sprechtheaters mit musikalischen Acts. Alle 26 Nummern, werden von einem exzellenten Orchester getragen, das seinen spezifischen Klang der Kombination aus Klavier, Cembalo, Keyboard (Matan Porat), E-Gitarre und anderen Saiteninstrumenten (Tobias Weber), E-Bass, E-Gitarre (Jonathen Stockhammer), Violine (Milena Wilke, Elfa Rún Kristinsdóttir), Trompete (Paul Hübner) und Drumset, Percussion oder Synthesizer (Philipp Kullen) verdankt.
Bekannte Melodien, die Hinterfotzigkeit des Lebens und deren poetisch ironische Überhöhung: Da wandelt sich der Körper des Bassisten in ein Cello, bevor dieser den Bogen an sich reißt und der zuvor noch lächelnd geigenden Möchtegerndämonin würgend in die Gurgel drückt. Wandelbar ist das Glück, das Gute und das Böse, jeder kreischende Jubelton kann rasch in das jämmerliche Geheul „Es tut mir leid“ umschlagen.
Niemand soll sich vorschnell in dieser Uneindeutigkeit, den Masken des Guten wie des Bösen in Sicherheit fühlen. „Für Sängerinnen stell‘ ich Fallen, sie sterben in kalten Musikhallen.“ Und nicht immer ist ein Dritter im Spiel: Was ist, wenn der Befehl zu töten von der eigenen inneren Stimme kommt? Auch die teuflischen Kontrakte mit kurzfristigem Gewinn im Tausch für den Verfall der Seele und langfristiger Vernichtung werden von den Menschen immer wieder unterzeichnet. Da mag sich der einzigartige Breakdancer und Performancekünstler Florian Vincent Graul in virtuosen Verrenkungen noch so abmühen und das leere zerknüllte Blatt von der Bühne blasen wollen, es gilt nicht nur für Wotan in Wagners „Walküre“ dieses juristische Naturgesetz „In eig’ner Fessel. fing ich mich, … den Verträgen bin ich nun Knecht.“
Bewundernswert ist, mit welcher stilistischen Wandlungsfähigkeit die drei Gesangssolisten André Morsch (Bariton), Peyee Chen (Mezzo) und Ted Schmitz (Tenor) in ihre jeweiligen Rollen schlüpfen und als Peter Grimes, Dämon aus Rubinsteins gleichnamiger Oper, Mephisto, Deianira, Arianna, Eugen Onegin oder Lenski stimmlich und darstellerisch reüssieren.
Mit politischen Aktualisierungen hält sich die Regie zurück. Außer dem schwarzen T-Shirt mit weißem Bundesadler, das von rechten Gruppierungen getragen wird, bleibt das Thema auf einer abstrakten Ebene. Freilich reicht die Idee zum Projekt auf das 200. Bestehen des Konzerthauses Berlin und des beinahe zeitgleichen Uraufführungs-Jubiläums des „Freischütz“ 2021 zurück. Pandemiebedingt wurde aus der ursprünglichen Idee nichts: Die Besetzung musste verkleinert, die Programmfolge korrigiert und die Termine verschoben werden. „Die Compagnie probte in Phasen zwischen größter Hoffnung und tiefster Verzweiflung, die auf seltsame Weise den Zustand einer extrem verunsicherten Gesellschaft spiegelte“, so der Dramaturg Andreas Hillger.
Aber sind nicht die Texte „Oh no, not me / I never lost control, you are face to face with the man who sold the world“ (David Bowie) oder der in Anbetracht des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besonders erschütternde Wortlaut des Duell-Duetts zwischen Onegin und Lenski genug an sprachlos machender Verbildlichung von Freund-Feind, Gut Böse Schema in Zeiten von Krieg und Destabilisierung?
„Mein Feind! Seit wann droht unserm Bunde der Feindschaft heißer Durst nach Blut! Und haben sonst zu jeder Stunde Gedanken, unser Hab und Gut geteilt als Freunde. Wie umnachtet von falschem Hass ein jeder trachtet nach seines einst’gen Freundes Blut. Und Tod sinnt jeder von uns beiden. Ach, wäre Frieden nicht vernünft’ger jetzt und, eh‘ die Hand von Blut benetzt, in alter Freundschaft sich zu einen? Nein, nein, nein, nein!“ (Tchaikovsky „Eugen Onegin“, 2. Akt, 5. Bild)
Fazit: Ein großer, wichtiger, ein packender Abend!
LINK zum Artikel: https://onlinemerker.com/berlin-radialsystem-nico-and-the-navigators-empathy-for-the-devil/
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