BERLIN /RADIALSYSTEM „WASTED LAND“ – Nico and the Navigators in einer melodramatischen-musiktheatralischen Aktion Zum 100-jährigen Jubiläum von „The Waste Land“ von T.S. Eliot
„Gegenwart und Vergangenheit sind vielleicht in der Zukunft enthalten und im Gewesenen das Künftige. Ist aber jegliche Zeit stets Gegenwart, bleibt alle Zeit unerlöst.“ aus T.S. Eliot „Vier Quartette“
„April ist he cruellist month“ – Wer würde bei den wolkenbrechenden Wechselbädern draußen diesem enigmatischen Anfangssatz aus T.S. Eliots 433 Zeilen langer Suada über ein wüstes Land, diesem monologischen Monster, dieser liturgischen Monodie, nicht zustimmen? Der blinde Seher Tiresias verirrt sich in die 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Zeitreise des Propheten aus den ‚Metamorphosen‘ des Ovid mündet in eine nüchterne Gegenwart. Über London, dieser „unreal city“ und ihren Brücken wanken Prozessionen an Toten. Der Krieg ist zwar vorbei, die Spanische Grippe hat sich ausgetobt, aber eine noch nie dagewesene Dürre sucht England heim und die todbringende wirtschaftliche Depression wird in den Metropolen in nächtlicher Ekstase für ein paar Stunden vergessen.
Den Menschen fehlen Halt, Werte und fester Standort, Ordnung und Übersicht. Ideologien beginnen, Menschlichkeit, urbedürftiges Miteinander und Realsinn abzulösen. In dieses rau(s)chnebelige 1922 stürzen drei literarische Monolithen herab: T.S. Eliot mit seinem von Ezra Pound radikal gekürzten „Waste Land“, James Joyce’s „Ulysses“ und Rilke mit seinen Sonetten an Orpheus.
Nicola Hümpel hat mit ihren Navigators T.S. Eliots lyrische Jubiläums-Vorlage frei für einen Theaterabend adaptiert, der einen direkt an der Halsschlagader packt. Aus den fünf Kapitel des Poems „Das Begräbnis der Toten“, „Eine Schachpartie“, „Die Feuerpredigt“, „Tod durch Wasser“ und „Was der Donner sprach“ destilliert ihre Regie Fragmentarisches, Banales und Philosophisches zu eindringlichen melodramatischen Szenen, pantomimischen Soli und brennpunktmäßig auf die Leinwand projizierten Gesichtslandschaften. Angenehmerweise wird auf alle Aktualisierungen mit dem Holzhammer verzichtet, im Vertrauen auf das dichterische Wort liegt die Stärke der Produktion. Aber: Jeder Versuch, die Sprachmacht von Thomas Stearns Eliots Poesie mit adäquater Musik (Konzept Tobias Weber) zu kontrapunktieren, muss ein Versuch bleiben. Da können auch die kurzen und gekonnt arrangierten Tonsequenzen aus Richards Wagners „Tristan und Isolde“ und „Rheingold“ nichts ausrichten.
Im Zentrum des Abends steht Ted Schmitz, ein US-amerikanischer Sänger und Schauspieler der Sonderklasse, der der in Dessau gegründeten und seit 2006 regelmäßig im Radialsystem auftretenden Theatergruppe seit 2011 die Treue hält. Dieser initial zweite T.S. des Abends spricht Eliots Gedicht in britischem Englisch dermaßen klangschön und archaisch eindringlich, dass während seines Rezitierens auf der dunklen leeren Bühne alles um ihn herum versinkt. Die Wahrnehmung des Zuschauers ist auf diesen großen hellhaarigen schlanken Künstler konzentriert, der – wenn er singt – einem Barden aus dem elisabethanischen Zeitalter gleicht. Hier gewinnt auch die Musik an Konzentration, die in ihrer kammermusikalischen Prosodie an Benjamin Britten erinnert.
Daneben hinterlassen die Auftritte von Lujain Mustafa, einer in Syrien geborenen Tänzerin, Performerin und Choreografin, den stärksten Eindruck. Sie erzählt in ihren expressiven pantomimischen Liedern ohne Worte vom naiven Hyazinthenmädchen, das im Bordell landet und abtreiben muss, von der Einsamkeit der Kreatur, der Nüchternheit der Begegnung mit dem anderen Geschlecht: „Well now that’s done: and I’m glad it’s over“. Die Zeitebenen scheinen aufgelöst, Erinnerungen, Angst und Verlangen in Kopf und Denken brüchiger und zerrissener Seelen irrlichtern in einer ebensolchen Welt. Der Sinn unseres Tuns ist schwer auszumachen. Genügen das Bemühen, die Anstrengung, wie das später so anschaulich Albert Camus in „Der Mythos des Sisyphos“ beschreiben wird?
Wir erkennen in T.S. Eliots Befund „I will show you fear in a hand full of dust“ einen Spiegel unserer Zeit voller wortgewaltig inszenierten surrealen Bildorgien im social-media-style, voller Naturkatastrophen, Gerassel mit dem Einsatz atomarer Vernichtungswaffen und dem vielen bekannten Gefühl des Nichts, mit dem sich Nichts verbindet.
Erst am Ende segnet der Autor sein eigenes radikales literarisches apokalyptisches Experiment, das so viel von einem Hölderlin der Frühromantik dem 20. Jahrhundert anverwandte, und wohl auch seine Leserschaft mit dem hinduistischen Shanti, shanit, shanti, shanti. Es ist ein (sehr) leiser Wunsch nach Seelenruhe und innerem Frieden unter den trockenen Felsen des Daseins und einer Menschheit, die metaphorisch nach Regen dürstet.
Das Publikum schloss auf die nachdenklichen, von feiner Poesie getragenen eindreiviertel Stunden ohne Pause auch Patrick Schott als Chronisten und die Musiker Daniel Seminara (Gitarre), Paul Hübner (Trompete), Philipp Kullen (Schlagzeug, Sythesizer), und Wolke Misewitch (Violine, Gesang) in den überaus heftigen Applaus mit ein.
Hinweis: Am 16. Dezember 2023 wird das 25-jährige Bestehen der Berliner Kompanie mit einer Kammerfassung der Produktion „Lost in Loops“ gefeiert werden.
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