Bilanz Biennale München

...Auch tags zuvor war der Tod Hauptthema bei der Biennale. Es ging um die Frage, ob fünfzig sichere Jahre oder 88 unsichere die bessere Lebensperspektive sind? Also eine Lebensgarantie oder das Risiko, täglich sterben zu können? Damit beschäftigte sich in den fünfziger Jahren Elias Canetti, als er sein Gedankenexperiment Die Befristeten schrieb. Das Thema ist unerwartet aktuell geworden. Inzwischen lässt sich die Lebenserwartung von Menschen dank der Gentechnik bekanntlich immer präziser vorhersagen, eine Tages vielleicht auf das Jahr genau. Schon jetzt können Interessierte ja verschiedene Tests absolvieren und ihr Krebs- und Alzheimerrisiko auswerten lassen. Der Komponist Detlev Glanert machte aus der Schauspielvorlage ein unterhaltsames wie düsteres Melodram, also ein Oper, in der nur gesprochen wird. Vor langer Zeit waren Melodrame mal in Mode, es war also ein Wagnis, diese vergessene musikalische Kunstform wieder zu beleben, und es hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. In den Befristeten heißen die Menschen so wie ihr programmiertes Alter, das sie allesamt an einer Halskette mit sich tragen. Die Glücklicheren dürfen sich also von Geburt an 88 nennen. Wer auf den Tag genau weiß, wie lange er noch zu leben hat, steht vielleicht vor einem Abgrund an Langeweile, verzweifelt am Restleben, oder er wird wegen seiner vielen Jahre für alle anderen zur Zumutung. Regisseurin und Ausstatterin Nicola Hümpel hat das mit viel Witz und Tempo auf die Bühne des Cuvillièstheaters gebracht. Am Ende stellen alle Beteiligten fest, dass ihr programmiertes Alter nur Schwindel war. Aber was folgt daraus? Eine Freiheit, mit der längst nicht alle umgehen wollen und könnnen. Über fast zwei Stunden hinweg fesselte dieses Melodram mit seiner zupackenden, oft ironischen, manchmal aggressiven Musik. Detlev Glanert gehört zu den begabtesten und theaterkundigsten Komponisten seiner Generation. Er schreibt immer dramatisch, also handlungsorientiert und hat in diesem Fall sogar hauptsächlich während der Proben komponiert und konnte somit auf alle Veränderungen reagieren. Ein verdienter Uraufführungserfolg, der hoffentlich anderswo nachgespielt wird. Insgesamt ist die Münchener Biennale für Neue Musik in diesem Jahr deutlich publikumsfreundlicher geworden – sie hat viel gewagt: Gewinnen ist in der Oper nicht notwendig.

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