Bildung in Zeiten des Zappens
In Berlin als Stars der freien Szene gefeiert: „Nico and the Navigators“ gastieren zu Hause Dessau/MZ. Jede Zeit knüpft sich ihr eigenes Koordinaten-Netz: Wo in der unvermessenen Welt noch Sterne und Sextanten für einen Aufbruch zu neuen Ufern genügten, greift man auf der Reise in reale oder virtuelle Weiten nun zu GPS-Lotsen und Suchmaschinen. In der neuen Unübersichtlichkeit ist offenbar kein Platz für menschliche Wegweiser und Pfadfinder. Es sei denn, sie würden sich „Nico and the Navigators“ nennen und das Problem der allgemeinen Orientierungslosigkeit als selbstbewusste Stellvertreter zielstrebig ausleben. Seit ihrer Gründung am Dessauer Bauhaus 1998 hat sich die Gruppe um Nicola Hümpel mit nur drei Inszenierungen zum Publikums- und Kritikerliebling der Berliner Off-Bühnen entwickelt. Dabei ist ihr das zunehmende Fremdeln offenbar gut bekommen: nachdem sie von ihrer ersten Exkursion „Ich war auch schon einmal in Amerika“ nur den idiomatischen Gruß „Lucky days, Fremder!“ mitgebracht hatte, versteigt sie sich in ihrer aktuellen Arbeit nun zu der kryptischen Wortschöpfung „Eggs on Earth“. Aber ausgerechnet mit diesem fröhlich-frechen Sprach- und Bilderrätsel ist der endgültige Durchbruch gelungen. Die Navigatoren füllen ihre neue Heimstatt in den Berliner Sophiensaelen mittlerweile mühelos und wurden vor wenigen Wochen zum renommierten „Impulse“-Festival der freien Theaterszene nach Nordrhein-Westfalen eingeladen. Was heute und morgen auch an seinem Ursprungsort im Bauhaus zu besichtigen ist, präsentiert sich als Bildungsprogramm im Zeitalter des Zappens: Kurze, scharf geschnittene Slapstick-Szenen erzählen vom Leben jener jungen Aufsteiger, die sich mit jeder Hierarchie-Stufe von sich selbst entfernen müssen. Im schrägen Schick der Trend-Magazine kostümieren sie sich bis zur Uniformität, von der auch ihre Sprache nicht unberührt bleibt. Und wenn sie sich nicht gerade ängstlich nach dem verpassten Moment fragen oder um einen Termin bei einem höheren Wesen namens „Mr. Fogg“ ringen, winden sie sich zu mehr oder weniger dezenter Hintergrund-Musik auf den Designermöbeln wie auf einem Prokrustesbett oder kämpfen mit einer Faxpapierschlange wie einst der sagenhafte Laokoon. Die 33-jährige Nicola Hümpel, die nach einem Studium der bildenden Kunst ihre prägenden Theatererfahrungen mit Achim Freyer 1991 während der berühmt-berüchtigten Bühnenklasse des Dessauer Bauhauses sammelte, versteht sich inzwischen meisterhaft auf die Entwicklung konzentrierter Bilder aus gemeinsamer Improvisation. Unterstützt wird sie dabei vor allem von ihrem Lebensgefährten Oliver Proske, der sich vom Industriedesigner zum fantasievollen Szenografen entwickelt und für „Eggs on Earth“ eine multifunktionale Box voll überraschender Spielebenen entworfen hat. Dies ist die Manege für die sieben traurigen Clowns, deren Realitätsverlust zum Pas de deux mit simplen Haushaltsgeräten oder zum grausamen desinteressierten Betasten der fremden Körper führt. Dass dieses melancholisch-groteske Generations-Porträt ausgerechnet an den Rändern der subventionierten deutschen Theaterlandschaft gezeichnet wird, gehört freilich zu den Paradoxa der Kulturpolitik. Denn obwohl Nico das eigenhändige Schminken ihrer Akteure noch immer als „zärtliche Geste“ beschreibt, funktioniert das aus umkämpften Fördertöpfen gespeiste Ensemble noch heute nach dem Prinzip der Selbstausbeutung. Da wirkt der Aphorismus, dass ein Lächeln am Fuße der Karriereleiter eben zwangsläufig mit dem Verzicht auf den eigenen Aufstieg bezahlt wird, nur noch zynisch. Denn zwischen den Interims-Spielstätten in den Sophiensaelen und dem Bauhaus hätten die Navigatoren ein festes Domizil inzwischen längst verdient. Zumal es hierzulande bekanntlich allzu viele Bühnen-Schiffe gibt, die ziellos auf offener See kreuzen.
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