Das Chaos in sich täuschen

Sophiensaele: "Kain, Wenn & Aber" von Nico and the Navigators Regie Nicola Hümpel, Bühne Oliver Proske Am Anfang herrscht noch Ordnung. Blau ausgeleuchtet strahlt die Bühne in den Berliner Sophiensaelen die kühle Eleganz eines Showrooms aus. Drei bewegliche Bühnenmodule geben dem Raum eine klare Architektur: Vor einer Leinwand in Panoramaformat stehen sich zwei hohe Quader gegenüber, davor ist ein geschwungenes Element platziert, eine niedrige Bank. Am Ende siegt die Unordnung: Papier liegt auf dem Boden, als hätte jemand im Büro zum falschen Zeitpunkt das Fenster geöffnet. Der Ledersitz des Holzstuhls, der zu Beginn in einem Lichtkegel im Vordergrund stand, wurde nach oben geklappt. Und in der Bühnenperipherie liegt zusammengeknüllt ein Jackett. „Man muss das Chaos in sich täuschen“, sagt eine Figur in der jüngsten Produktion von Nico and the Navigators, „Kain, Wenn und Aber“, die um das Thema Lebensentscheidungen und die alltägliche Qual der Wahl kreist. Es geht also um nichts Geringeres als den so genannten freien Willen. Den kann man zunächst mal philosophisch denken. Und wie gelangt man trotz persönlichem Chaos zu Entscheidungen? Das liegt wohl wieder in der Psychologie des Einzelnen. Nico and the Navigators ist derzeit das erfolgreichste Ensemble der Berliner Freien Szene. Gegründet hat sich die Gruppe 1998 am Bauhaus Dessau. Entdeckt wurde sie von den Berliner Sophiensaelen, wo die jungen Darsteller mit den eher unkonventionellen Berufsbiographien um Regisseurin Nicola Hümpel bis heute als artists in residence produzieren. In diesem Jahr stehen Tourneen nach Frankreich, in die Niederlande, nach Budapest und Russland an. Nico and the Navigators gehört sicherlich zum Auffallendsten, was Deutschlands Freie Szene zu bieten hat. Warum? Das Ensemble hat in kurzer Zeit eine eigenwillige Handschrift entwickelt, die sich auch in „Kain, Wenn und Aber“ schauspielästhetisch zwischen Buster-Keaton-Slapstick, Grand Guignol, Tanz- und präzisem Bewegungstheater und dem alltäglichen Hochdruck-Realismus von Fernsehshows und deutschen Stammtischreden bewegt: „Was ist denn da los in Kolumbien? Und was ist mit der CIA? Und die Geldvernichtung? Auf welches Konto ist das Geld denn hin vernichtet worden?“, wettert Lajos Talamonti vom Plafond eines der Quader herunter. Währenddessen sitzt Peter Stock stumm und verklemmt in fahlem Licht im Holzstuhl. Denn bei den Navigators herrscht das Prinzip der Simultanbühne: Der Betrachter blickt in eine Produktions- und Improvisationswerkstatt von drei weiblichen und vier männlichen Darstellern, die nicht an einem bestehenden Stücktext, sondern an einem impressiven Bildertheater laborieren. Der große Sinn ist eh verloren gegangen. „Du musst doch eine Vision haben“, schreit Annedore Kleist ihr männliches Gegenüber an. Und der schweigt mal wieder. Und vielleicht ruht darin ja das Erfolgsrezept von Nico and the Navigators: dass vor allem die männlichen Darsteller in ihren wasserblauen Anzügen, mit dem blassen Teint und den ernsten Gesichtern eben so gar keine Entscheidungsträger verkörpern, sondern Traumtänzer sind mit schräg gestriegelten, subversiven Frisuren. Das ist das Identifikationsangebot, das Nico and the Navigators den Zuschauern machen in dieser „Akkreditier-mich-doch-mit-Gehoppel“-Welt, in dieser „Hochglanz-Boulevard-Gerammel“-Welt (so die Schauspielerin Sinta Tamsjadi): Voilà, der Sonderling! Einen Korb liebkost er, zusammengekauert, mit der Leidenschaft eines Autisten (Peter Stock). Und die Zusammenhänge der Welt erklärt er (Lajos Talamonti) mit so kantigen Sätzen wie: „An der Erde hängt der Mensch, an ihm der Himmel.“ Dann lacht er kurz und hell auf.

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