Demokratiedämmerung
Man muss ein wenig ausholen: Am 25. September, dem Vorabend der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Thüringer Landtags, veröffentlicht Björn Höcke auf der Social-Media-Plattform X den Post «Demokratiedämmerung». Darin klärt der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag und Landessprecher der AfD Thüringen seine 144.323 Follower auf, «wie die selbsternannten ‹demokratischen› Parteien die Demokratie aushebeln wollen», und kündigt für den Folgetag eine «Politposse» um das Präsidenten-Amt an. «Wenn morgen im Thüringer Landtag nicht der Kandidat der stärksten Fraktion gewählt würde, wäre das ein elementarer Regel- und Tabubruch in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte», agitiert er seine Fanbase, «und genau diesen Bruch bereiten CDU, #BSW, #SPD und Linke vor.» Was der laut Verfassungsschutz «gesichert rechtsextreme» Höcke unter «Politposse» versteht, wird am nächsten Tag deutlich: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik entgleist die konstituierende Sitzung eines Parlaments. Sie muss unterbrochen werden und den Umweg über das Verfassungsgericht nehmen. Grundlage der interaktiven Inszenierung der AfD ist ein strategisches Szenario, das sie auf der Basis einer «Auslegungsunsicherheit» in der Geschäftsordnung des Landtags entwickelt und mithilfe ihres Alterspräsidenten Jürgen Treutler aufgeführt hat. Dabei hätte man das Schauspiel leicht verhindern können. Zum Beispiel hätte man besagte Passage in der Geschäftsordnung konkretisieren können, nachdem das akademisch-journalistische Forum «Verfassungsblog – On Matters Constitutional» im April die Szenario-Analyse ihres «Thüringen-Projekts» als Policy-Paper publiziert und Handlungsempfehlungen ausgesprochen hatte. Die Grünen beantragten deshalb im Dezember 2023 eine Änderung der Geschäftsordnung; die CDU lehnte damals ab. Dabei setzt sich die vom Juristen und Autor Maximilian Steinbeis gegründete Plattform bereits seit 2019 mit der Frage auseinander, wie groß die Demokratiegefährdung in der Bundesrepublik ist, wenn einer autoritär-populistischen Partei der Zugriff auf staatliche Machtmittel und Institutionen gelingt. Steinbeis’ Essay «Ein Volkskanzler» fokussierte damals schon die Lücken im verfassungsrechtlichen System und spielte gedanklich eine autoritäre Machtergreifung mit legalen Mitteln durch. Nun hat er daraus – und auf Grundlage des «Thüringen Projekts» – das Szenario «Ein Volksbürger» entwickelt, das als «politische Farce im Haus der Bundespressekonferenz» Premiere hatte – nur einen Tag nach der AfD im Thüringer Landtag.
Szene: Bundespressekonferenz
Als Institution, die 1949 aus dem Impuls heraus gegründet wurde, «relativ schnell an möglichst objektive Informationen heranzukommen», ist die Bundespressekonferenz die zentrale Institution politischer Berichterstattung. Nicht zuletzt durch ihre ritualisierten «Regierungspressekonferenzen», denen die Dramaturgie des Theaterstücks folgt, arrangiert von Nicola Hümpel. In wechselnden personellen Konstellationen – Ministerpräsident, Regierungssprecherin, Landrat, NGO und Bundesbeauftragter – bilden sie über den Verlauf eines Jahres den sich langsam, aber absehbar zuspitzenden Konflikt «exekutiven Ungehorsams» ab – die faktische Verweigerung eines Bundeslands, Bundesrecht und der -regierung zu folgen, die fast in einem Bürgerkrieg mündet.
Das Theater beginnt mit dem Wahlabend. Die Pressekonferenz erstrahlt im leuchtenden Blau der «Demokratischen Allianz» (Bühne Oliver Proske), während die fiktiven wie echten Journalist:innen samt Theaterpublikum gespannt auf das erste Statement des Wahlsiegers warten. Als neuer Ministerpräsident eines fiktiven Freistaats überzeugt Schauspieler Fabian Hinrichs mit seinem unerschütterlich jungenhaft-selbstgefälligen Grinsen auf glänzender Gesichtshaut. Dazu hat er allen Grund: Sein «Erdrutschartiger Wahlsieg» macht Koalitionen oder Kompromisse zukünftig überflüssig. Auch der Polit-Journalist Theo Koll spielt bei der Realitäts-Anmutung des Settings mit und entlockt Hinrichs’ Arndt noch vor der Konferenz einige jovial-überhebliche Polit-Phrasen. Dann dominiert Arndt den Raum, verspätet und versöhnlich, basht Bürokratie, Telefonnetz und Digitalisierungsstand und sieht über etwaige Fragen der Journalist:innen strahlend hinweg: «Sie wollen ja heute immer ein gutes Wording. Ich sag Ihnen mal eins. Freistaat First.»
Alle, auch die Vorsitzende der Pressekonferenz (Klara Pfeiffer), haben nach Arndts Auftritt und Abgang jenseits des Protokolls verstanden, dass hier jemand seine eigenen Regeln macht. Realpolitisch betrifft das schleichend – aber wenig überraschend – die Migrations- und Asylpolitik des Freistaats, der seine in Grundgesetz und Bundesrecht verankerten Pflichten schlicht verweigert und aussitzt. Wie 2012, als sich schon einmal das freistaatlich-bayrische Herz der CSU vor dem Bundes- wie EU-gesetzlich geforderten Dieselfahrverbot verschloss und verwaltungsgerichtliche Versuche, Markus Söder zu inhaftieren, scheiterten. 2020 wurde der Fall «#Bayern ist ein Autoland» vor dem europäischen Verwaltungsgericht klaglos geschlossen. Ähnlich hilf- und ratlos antwortet nun die
Regierungssprecherin (Annedore Kleist) im Theater die Fragen der Journalist:innendarsteller weg: «Wir sehen diese Problematik natürlich und nehmen sie sehr, sehr ernst» oder «Das Grundgesetz und das Rechtsstaatsprinzip sind natürlich nicht verhandelbar». Nach Auftritten eines rassistischen Landrats (Stefan Merki) («Aber wenn dann ein Ukrainer mit seinem SUV an der Tafel vorfährt und sich das Essen abholt – das muss man erst mal aushalten»), von NGO-Aktivisten und Bundesbeauftragten (denen der Zugang zu den freistaatlichen Behörden verwehrt wird), mündet die Inszenierung schließlich absehbar in den «Bundeszwang»: Im abtrünnigen Freistaat wird der «Notstand» ausgerufen, die Amtsenthebung aller Minister und die Entwaffnung der Landespolizei folgt. Man versteht: Es hätte schlimmer kommen können.
Auf der Flucht
Im Chaos, das einem Bürgerkrieg gefährlich nahe kommt, gelingt dem Hauptdarsteller die Flucht in ein Land, «wo die Zitronen blühen». Von dort schickt er eine (vorerst) letzte Videobotschaft, um das Opfer-Narrativ (#fünf Kinder) im Gestus von Widerstand (#Machtkartell) und im Geiste der Aufklärung wortreich zu befeuern. Er zitiert Brecht, Kant (falsch) und Goethe (falsch). Am Ende verlässt die Inszenierung ihre dokumentar-realistische Form und ändert damit
auch ihren Gegenstand, hin zum komplizierten Verhältnis von Kunst, Ideologie und Politik. Das treibt Hinrichs dann noch mit dem ausgesprochen selbstbewussten Versuch, die Arie «Nessun dorma!» (Niemand schlafe!) aus Giacomo Puccinis «Turandot» live zu schmettern, auf die finale Spitze – eigentlich ja das Kerngeschäft des Musiktheater-Kollektivs Nico and the Navigators.
1924 gestorben, hatte Puccini weder seine Oper vollenden können noch miterleben müssen, wie sich die faschistische Partei Italiens, deren Ehrenmitglied er war, unter Mussolini entwickelte.
«Es hat etwas begonnen, da ist etwas in Gang gesetzt worden, eine riesige Umwälzung, eine Revolution – gewissermaßen», dräut Dominik Arndt im Video. Deshalb hat das Team vom Verfassungsblog gerade ein Crowdfunding gestartet, um «Das Projekt Thüringen» jetzt auf «Das Projekt Bundesrepublik» auszudehnen. «Wir müssen aufhören zu erwarten, dass uns die Institutionen schützen», appelliert Maximilian Steinbeis im Publikumsgespräch an die Rolle der Zivilgesellschaft. «Wir müssen jetzt umgekehrt die Institutionen schützen.»
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