Der geweitete Blick – Das Künstlerkollektiv Nico and the Navigators feiert sein 20-jähriges Bestehen mit dem Musiktheater „Die Zukunft von gestern“ in den Berliner Sophiensælen
Ein Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch? Nun ja, manchmal it ein Tisch nicht mehr als ein bemühtes Requisit, hier aber ist er ein Füllhorn an Geschichte(n). An diesem Tisch (graues Resopal) haben sich Tragödien ereignet, individuelle, familiäre, gesellschaftliche Tragödien, die stets am Rande der Groteske wohnen und doch tief ins Innere der Protagonisten blicken lassen, wo die allzu täglichen Qualen wohnen. Also legt sie mächtig los, die Dame in ihrem strengen Faltenrock, und züchtig dekolletierter Bluse. Klappt das (imaginäre) Familienalbum, das sie mit sich herumträgt im blondbesträhnten Kopf, weiträumig auf, entblättert all ihren Kummer und Zorn. Binnen Minuten schrumpt die heilige Konstellation zu einem Kosmos aus Katastrophen, Klüngeleien und Komödien, die sich ein an diesem oder einem anderen Tisch wohl abgespielt haben mögen. Wie die Schauspielerin Annedore Kleist das auf der kongenialen, zu einer Garage sich schichtenden Projektionswände-Bühne von Oliver Proske vermittelt, ist nicht nur herrlich komisch. Es ist zugleich so unendlich traurig. Die Zwiebel, gehäutet, legt einen erschütterten Kern frei, und selbst die meist sanft-untergründige Musik vermag ihn nicht mehr schützend zu umhüllen. „Die Zukunft von gestern“ heißt, mit bewusst paradoxalem Einschlag, der Abend zum 20-jährigen Bestehen des Musiktheater-Kollektivs Nico and the Navigators in den Berliner Sophiensælen, eine Koproduktion mit Kampnagel. Mag die Anspielung auf Schönberg Zufall sein, hier wird der Titel tatsächlich Programm. All die Geschichten, die von den Protagonisten gesprochen, gespielt, getanzt werden, schließen Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges ein, ja gewinnen erst in diesem „Beziehungsdreieck" Kontur. Es ist wie mit Pandoras Sammelbüchse: Einmal geöffnet, entspringen ihr all jene Geister, die man rief, brechen einst versiegelte (Ober-)Flächen auf, werden vernarbte Wunden wieder aufgeschnitten. Der Mensch blickt in den Spiegel Nicht immer erhebend, was er dort sieht. Aber um das Erhabene, Edle, Schöne ging es Nicola Hümpel und ihrem Team vordergründig nie. In zunehmend freierer Improvisation war es stets Anliegen dieses musikalisch-szenischen Spiels, die autobiographischen Reflexionen der beteiligten Protagonisten in einen gesellschaftlichen Kontext einzubinden. Dass die Parameter andere sind, manifestiert sich an diesem Abend in der „Figur" von Patric Schott. Der Ur-Navigator ist seit 1999 festes Ensemblemitglied, und wenn er in seiner urkomischen Manier über die Dinge referiert, die sich seit Gründung des Ensembles durch Nicola Hümpel und Oliver Proske geändert haben, dann liegt darin erhebliches kommentierendes Potenzial. Auch das (Musik-)Theater hat sich entwickelt. Und was früher nicht auf die „Motivliste" (Schott) durfte, weil es den „Dogmen" der Truppe zuwiderlief, darf sich jetzt austoben - was durchaus wörtlich zu verstehen ist: Nach jahrelanger institutioneller Förderung besitzt die Kompanie seit 2014 einen eigenen "Haushaltstitel". Das scheint erhebliche Energien freizusetzen, denkt man nur an die temperamentvollen Tanzeinlagen von Anna-Luise Recke und Yui Kawaguchi. Beide Frauen erzählen ganz ohne Rührung ihre persönliche Geschichte, schmücken diese aber mit wild-virtuosem Esprit. Aus diesem Gegensatz von nüchterner Schilderung der in beiden Fällen nicht eben gemütlichen Kindheit und Jugend (Recke wuch bei ihrer Mutter in der repressiven DDR auf, Kawaguchi durchlebte, nachdem sie Japan verlassen hatte, mehrere kulturelle Schocks, bevor sie 2008 bei Nico and the Navigators ein künstlerisches WG-Zimmer fand) und der enthemmten körperlichen Entäußerung resultiert die Spannkraft der Produktion. Aber auch eine Poesie, die ohne viel Worte auskommt und dennoch ungemein sprachmächtig anmutet. Ein wirksames Mittel, zu dem die Künstlergruppe greift, ist das Prinzip der Entschleunigung; das kann man sowohl beim Gang durch die Ausstellung erspüren als auch beim Durchblättern des Bildbandes „An der Erde hängt der Mensch und an ihm der Himmel". Fast ausnahmslos zeigen die Fotos Navigatoren im Zustand gebremst expressiver Existenz, geworfen in die Augenblickstarre, wie ertappt. Aber genau das wollen sie: ertappt werden in ihren zutiefst privaten Mitteilungen, frei nach dem Titel einer ihrer Produktionen: „Die Stunde da wir zu viel voneinander wussten", 2015 auf Kampnagel. Das alles geschieht nicht zufällig. Es dient dazu den Blick in den Spiegel und auf die Außenwelt zu weiten. Nicht die schlechteste Voraussetzung, um weiterhin ein so außerordentliches Musiktheater zu machen, wie es „Die Zukunft von gestern" ist. Jürgen Otten, Dezember 2018
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