Der Stachel hätte ruhig noch etwas tiefer bohren können

Das Kollektiv Nico and the Navigators wühlt sich in "Niemand stirbt in der Mitte des Lebens" durch 400 Jahre Musikgeschichte - mit Schwerpunkt auf dem Tod. Bei der Premiere im Berliner Konzerthaus fehlte am Mittwoch die emotionale Fallhöhe, schreibt Jakob Bauer. Er darf natürlich nicht fehlen bei einem Abend über den Tod: Der Trauermarsch von Chopin, der in tiefer Schwärze durch den Saal walzt. Es ist Musik, die im Bruchteil von Sekunden Bilder wachruft, von Beerdigungen, von weinenden Menschen - an den Tod. Er ist mit dieser eindeutigen Zuordnung und Verortung die absolute Ausnahme an diesem Abend. Denn die sechs Frauen und Männer auf der Bühne, die tanzen und singen, Persönliches preisgeben und mit den Worten von Dichtern und Denkern über den Tod philosophieren, zeichnen an diesem Abend alles andere als ein eindeutiges Bild vom Tod. Von Monteverdi zu Hank Williams Das wird schon ganz am Anfang klar: Da wechseln die Navigators von knapp 400 Jahre alter Musik von Monteverdi zu Countrylegende Hank Williams. "The Angel Of Death" heißt das Lied, das sich textlich unzweifelhaft schwermütig mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt. An diesem Abend allerdings spielt der Schlagzeuger der Navigators auf einer Marimba – wodurch der Angel of Death seine Gefahr verliert und eher eine heitere Note entwickelt. Die wird nicht nur dadurch verstärkt, das zwei in schwarz gehüllte Gestalten eher komisch als gruselig an der Marimba herumfuhrwerken und versuchen, den Schlagzeuger aus dem Takt zu bringen. Denn die ironische Brechung des vermeintlich so schweren Themas Tod hat an diesem Abend System.  "Als ich bei der Beerdigung meiner Oma war, dachte jeder, ich wäre traurig. Aber ich war nur hungrig", erzählt der musikalische Leiter des vierköpfigen Ensembles, Matan Porat, zu Beginn der zweiten Hälfte des Abends. Auch alle anderen Künstlerinnen und Künstler - Musiker, Tänzer und Sänger - erzählen kleine persönliche Geschichten zum Tod, von heiter bis wolkig, witzig oder ohne jegliche Pointe. Zwischen den Stücken denkt eine Sprecherin über den Tod nach: Wovor sollte ich Angst haben? Was ist eigentlich Zeit und wie viel habe ich noch davon? Was würde passieren, wenn hier im Raum jemand stirbt – wird der Tod nicht zu sehr tabuisiert? Der Abstand zum Tod bleibt Je mehr Zeit an diesem Abend vergeht, desto mehr wirkt es so, als würde man auch hier dem Tod nicht wirklich näher kommen. Das Thema soll ambivalent und nicht zu schwer behandelt werden – gut, aber dadurch machen es sich zumindest hier die Gefühle im Mittelmaß bequem. Man ist anerkennend, aber wenig bewegt. Die Musik der mehr als 30 Stücke ist toll ineinander verzahnt – die Emotionen nicht. Zu vieles ist mit einem buchstäblichen Zwinkern vorgetragen. Aber der teilweise in Slapstick gehende Humor bräuchte erstmal eine emotionale Fallhöhe, um wirklich wirken zu können. Wenn sich hier im wahrsten Sinne des Wortes Asche aufs Haupt geklatscht wird, ist das weniger kathartisch als albern. Man hält sich zurück, der Abstand zum Tod bleibt. Und außenherum geht die Welt unter Bis zum letzten Viertel des Abends. Eingeleitet von Chopins Trauermarsch und dem Schlingensief-Zitat "Am liebsten würde ich einfach allen Menschen zurufen, wie toll es ist auf der der Erde zu sein" drehen die Navigators auf. Da ist er plötzlich, der Ausbruch aus der Gleichgültigkeit, der Totentanz und der Rausch des Lebens, diese Ambivalenz, die Dringlichkeit und Unvermeidlichkeit, die Leidenschaft und die Tränen. Während sich ein Paar ganz langsam, liebevoll blickend - sie in Schwarz, er in Weiß - auf der Bühne dreht, geht die Welt um sie im musikalischen Chaos und mit wildem Derwischtanz zu Teufel. Der bitter-süße Stachel sitzt. Er hätte nur ruhig noch etwas tiefer bohren können.

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