Die Feinmechanik des Glücks

HALLE/MZ. Diese Götter sind wie Kinder: Noch bevor sich Orlando und Angelica, Dorinda und Medoro ver- und entlieben, bevor sich der kleine Prinz aus der Zerreißprobe zwischen Liebe und Macht in den Wahn flüchtet, kämpfen Amor und Mars einen Stellvertreter-Krieg. Aus anfänglicher Liebkosung wird schnell ein Überbietungs-Duell mit Martern aller Arten, wie man es nur im Stande der Unsterblichkeit führen kann - und erst, als Engelchen und Teufelchen begriffen haben, dass sich dieses Patt bis in alle Ewigkeit verlängern ließe, wenden sie sich lohnenderen, menschlichen Kombattanten zu. Doch es ist keine bloße Affekthascherei, die Miyoko Urayama und Patric Schott da betreiben - sondern die sinnstiftende Klammer in der "Orlando"-Inszenierung von Nicola Hümpel. Zwei ihrer langjährigen Mitstreiter hat die Berliner Regisseurin für ihr Stadttheater-Debüt verpflichtet, das als Opern-Produktion zu den Händel-Festspielen unter besonderer Beobachtung stand. Und nie war der Name ihrer freien, international gefeierten Gruppe stimmiger als hier: Die stummen "Navigatoren" halten die Geschichte auf Kurs, sie lesen den Kompass und manövrieren die Mannschaft durch Flaute und Sturm. Dass sie damit zugleich die Barock-Recherche fortschreiben, die im vergangenen Jahr mit "Anaesthesia" in Halle begann, erkennt man auch an den Accessoires in Oliver Proskes grandiosem Bühnenbild: Mit Hirtenstäben und Wollknäueln, mit Fellen und Federblumen wird ein abstraktes Arkadien beschworen, in dem ein Fächer kleine Papierschmetterlinge zum Fliegen bringt und Kissen wie weiße Blumen blühen. Schatten des Windspiels In dieser Landschaft, in der ein Windspiel tanzende Schatten wirft und eine Grotte wie von Zauberhand aus dem Boden wächst, entwickelt die Regisseurin ihre Figuren mit einer zarten Zeichensprache, die auch ohne aphoristische Kommentare und assoziative Videoprojektionen verständlich bliebe. Da wird ein Strumpf zum roten Faden abgewickelt, der gleich darauf einen anderen Akteur an seiner Krawatte auf die Szene zieht. Da genügen Absatzschuhe, um der barfüßigen Schäferin ihre Bodenhaftung zu nehmen. Und da verwandeln sich Frauke Ritters Kostüme in Lauben und Kränze ... Wie Nadelstiche setzt die Inszenierung zudem musikalische Interventionen, die stets vom Respekt für das Werk getragen sind: hier eine minimale Verzögerung, dort der per Flaschenhals zum Wind verstärkte Atem des schlafenden Helden. Die Deutungshoheit aber liegt unüberhörbar im Graben, wo Bernhard Forck ein beeindruckendes Opern-Debüt als Dirigent des Händel-Festspielorchesters feiert. So verständnisinnig und begeisterungsfähig, so mitleidend und entflammbar rechtfertigen die halleschen Staatskapellenmusiker unbedingt den Rang, den man ihnen als heimischem Ensemble bei den Barock-Festspielen zuweist. Das gilt auch und vor allem für die Sängerbesetzung: Owen Willetts ist nicht nur musikalisch, sondern auch darstellerisch ein Orlando, der die blindwütige Raserei wie die ohnmächtige Klage glaubhaft macht. Dmitry Egorovs Medoro hingegen ist ein vokal wie emotional strenger, enger geführter Gegenentwurf zu diesem Radikalen, der buchstäblich am Glockenseil zwischen den Extremen pendelt. Beiden hoch gestimmten Männern sind ebenbürtige Frauen zugewiesen - eine schöne und eine schön gemachte. Während Sophie Klußmann die reine, tief verletzte Unschuld ihrer Dorinda auch in der Kehle trägt, stellt Marie Friederike Schöder den Manierismus und die Posen der erfolgsverwöhnten Angelica auch in der akrobatischen Behandlung ihrer Gesangspartie zur Schau - ironische Selbstentblößung inklusive. Christoph Stegemann schließlich ist ein Zauberer, der mit abgezirkelten Gesten eine Macht behauptet, die ihm nur noch stimmlich gegeben ist. Sprung in die Zeitlosigkeit Es ist ein großer Sprung, den die Oper Halle mit dieser Produktion gewagt hat - eine Lesart, die Händel von den mutwilligen Zurichtungen des Regietheaters befreit und zu einer neuen, zeitlos gültigen Ästhetik öffnet. Diese Feinmechanik des Opern-Glücks spaltet die Meinungen - aber fand zur Premiere eine begeisterte Mehrheit.

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