Die ganze Wahrheit über Lügen

Das Musiktheater-Ensemble Nico and the Navigators gastierte zum Abschluss der Schwetzinger Festspiele im Rokoko-Theater


Eine gewisse Verwirrung dürfte bei größeren Teilen des Publikums gleich zu Beginn entstanden sein, als ungekürzt das christliche Glaubensbekenntnis rezitiert wurde. Eingefangen wurde das dann im letzten Sprechtext von „The whole Truth about Lies“, eine Art Revue, die das Berliner Musiktheater- Ensemble Nico and the Navigators zum Abschluss der diesjährigen Schwetzinger SWR-Festspiele im Rokoko-Theater präsentierte, verfasst vom Ensemble selbst: „Ich glaube an die Lüge / Die Allmächtige / Die Triebkraft der Menschen auf der Erde / Und an den Fortschritt / Ihren natürlichen Begleiter, unseren Stern. / Empfangen durch unstillbare Gier, / Geboren in den blutigen Schlachten, / Gelitten unter den Zwängen der Wahrheit, / Gerichtet, aber nie gestorben, / Hinabgezogen in das Reich des Guten / Immer wieder auferstanden von den Guten / Aufgefahren in die Zukunft. / Er sitzt zur Rechten der Lüge / der allmächtigen Mutter; / Und dort wird er bleiben / Verwandelnd die Lebenden in die Toten. / Ich glaube an falsche Versprechen / Das unaufhaltsame Wachstum / Gemeinschaft der Täuschenden / Verfälschung der Wahrheit / Verleumdung der Guten und das ewige Böse / Amen.“


In diesem Spannungsfeld ereignete sich ein etwa zweistündiges Kaleidoskop von etwa zwanzig Musikstücken von Händel über Chopin, Jacques Offenbach, Schostakowitsch, Ligeti bis zu John Lennon, gesetzt für Violine, Trompete, Klavier, E-Gitarre, Schlagzeug, teilweise durch Synthesizer erweitert und elektronisch verfremdet. Dazu kamen Texte, die menschliches Handeln eher pessimistisch einschätzen, sowie spektakuläre Balletteinlagen.


Das Bühnenbild basierte auf einer Erfindung von John Henry Pepper aus dem Jahr 1862, genannt „Pepper’s Ghost“, in der durch einen geschickt gestellten, halbdurchsichtigen Spiegel Tätigkeiten, die im Liegen auf dem Boden ausge- führt werden, durch Reflexion wie freischwebend im Raum erscheinen und dabei auch noch Interaktionen mit hinter dem Spiegel postierten Personen möglich sind. Diese alte Illusionstechnik wurde durch verfremdende Videoprojektionen zeitgenössisch erweitert, wobei fast alles, was sich auf der Bühne ereignete, auch im Ausschnitt als Videobild zu sehen war.


Bestimmt war der Abend von den hohen künstlerischen Leistungen, emotionaler Spannkraft und unbändiger Spielfreude des gesamten Ensembles, mit denen die von überbordender szenischer Fantasie geprägte Konzeption der Ensemble- Chefin Nicola Hümpel auf die Bühne gebracht wurde.


Das konnte man einfach genießen, sollte aber natürlich auch zum Mit- und Nachdenken anregen, ließ aber auch Widerspruch entstehen. So muss bezweifelt werden, dass Denken automatisch zur Lüge führt und man sich deswegen auf die Sinne zurückziehen sollte. Man darf auch anmerken, dass die im zitierten Glaubensbekenntnis evozierte Reihe „Fortschritt – Lüge – Böse“ das äußerst fragwürdige Gegenteil „Rückschritt – Wahrheit – Gut“ impliziert.


Man kann natürlich auch nach den Beziehungen zwischen Lüge und Illusion oder Wahrheit und Realität fragen, und man muss dann allerdings den Schluss des Programms einfach Kitsch nennen: Zu John Lennons „Gimme some Truth“ kuschelte das Berliner Ensemble gemeinsam unter einer großen Decke und schrieb in Großbuchstaben das Wort „Love“ über die Szene.


Mit einem solchen nostalgischen Rückgriff auf die Flowerpower-Romantik und das legendäre „Bed-in“ der Flitterwöchner John Lennon und Yoko Ono im Jahr 1969 in einem Amsterdamer Hotel werden sich die real existierenden Probleme dieser Welt sicher nicht lösen lassen. Es hätte die Stoßkraft des Abends deutlich verstärkt, hätte man ihn mit dem Bekenntnis „Ich glaube an die Lüge...“ geschlossen. Fehlte Nico and the Navigators dazu der Mut?











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