Die Ganzkörperpoeten

Nico & the Navigators brillieren mit Rossinis 'Kleiner Messe' Erst das 'Musiktheater', so erinnert man sich, verhalf der guten alten Oper aufs Karussell ihrer Möglichkeiten und brachte sie in Fahrt - mit jeder Umdrehung neue Bilder, für jede Generation eine eigene Tiefenschärfung. Nico and the Navigators heißt die Berliner Theatertruppe, die mit einem Stilmix aus Gesang, Schauspiel, Tanz, Slapstick und Tragikomik selbst ein lateinisch-katholisches Messritual musiktheatralisch in Schwung versetzen kann, so geschehen beim Kunstfest Weimar, uraufgeführt am Theater Erfurt: In fast zwei pausenlosen Stunden 'navigiert' die Performancegruppe, jedes einzelne Mitglied der Kompanie, mit der Ausdruckswucht der Körpersprache durch Gioachino Rossinis 'Petite messe solennelle', hier genannt ein 'Oratorium als Bildertheater'. Nicola Hümpel und Oliver Proske, beide um die vierzig, sind die Gründer des Kollektivs der 'Ganzkörperpoeten', das seine Ästhetik vor dreizehn Jahren zu entwickeln begann. Ausgehend vom Bauhaus Dessau erhielten sie erste internationale Resonanz mit dem Zyklus 'Menschenbilder' in den Berliner Sophiensälen. Und nach der Schubert-Show 'Wo du nicht bist' und dem Händel-Pasticcio 'Anaesthesia' sind sie jetzt bei der späten Messe Rossinis gelandet, die der Komponist sich noch einmal abverlangte, 34 Jahre nach seiner letzten Oper. Der betagte, in Paris mürbe gewordene Maestro der Opera buffa hat sie dem lieben Gott angetragen, den er launig anredet: 'Du weiß es wohl! Ein bisschen Können, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.' Gepfefferte Ambivalenz steckt in dem Satz wie auch im Ansatz der Aufführung: Rossinis Musik mischt melodische Inbrunst nonchalant mit dem Augenzwinkern simpelster Begleitfiguren, Nico and the Navigators behaupten dazu eine Art Theatertheologie, bauen Stationen eines szenischen Bilderstreits um Glaube oder Irr- und Aberglaube, um das Zweifels- und Zwiespaltsgebot, um Fragen nach Religion, Ritual, Humanität, Sehnsucht und seelische Gewalt in christlicher Utopie, Witz inbegriffen. Doch diese 'Glaubensbekenntnisse im 21. Jahrhundert' wollen nichts beantworten, nur Fragen stellen - in einer Flut sanft rieselnder Musik durch die Stationen der lateinischen Messe für Soli, Chor und Instrumente. Was Konzept und Regie Nicola Hümpels auf der durch drehbare Requisiten definierten Bühne Oliver Proskes bieten, ist ein Reigen scheinbar alltäglicher Menschen in kunstvoll stilisierten oder trashig ausufernden Bildern und Sketches, die die Messtexte vom 'Kyrie Eleison bis zum 'Agnus Dei' allerdings nicht verdoppeln und aktualisieren, sondern sie assoziativ zerfasern, kontrapunktieren. Bewegung durchzieht alles: Vier Gesangsolisten und acht Chorsänger sind ständig unterwegs, sogar die drei Instrumente, zwei Klaviere (SooJin Anjou, David Zobel) und Harmonium (Jan Gerdes), werden auf der Bühne hin- und hergefahren. Keine Stabilität, alles fließt, selbst der agile britische Dirigent Nicholas Jenkins wechselt die Standorte und lässt sich öfters in die 'Handlung' ziehen. Zum Prinzip von Nico and the Navigators gehört ein Spiel, das von Improvisation durchzogen ist und in langen Übungen und Workshops trainiert und ausgearbeitet wurde. Die Sänger der Produktion wurden auf ihre performativen Fähigkeiten hin gecastet - Gesangsstimme, Rollenspiel und Individualität sind gleich wichtig. Das beginnt, ehe zum Kyrie zwei Klaviere auf die Bühne gleiten und Choristen sie wie zufällig bevölkern, mit lockerer Prosa: Immer wieder schieben sich zwischen Rossinis Messteile gesprochene Abschnitte, in denen vier pantomimische Hauptdarsteller quasi als Instanzen für Lebens- und Glaubenssituationen agieren: einer, den man als eine Art Priester, Psychiater oder Schamane identifiziert, ein Rationalist oder Wissenschaftler, ein heruntergekommener Mafioso und eine seraphische Engel-Figur in Rot, die mit Tanzpantomimen wundersam gelenkig wirbelnde Yui Kawaguchi. Sie alle variieren die Sinnbilder von der Gespaltenheit menschlicher Existenz, die Ambivalenz vor dem Abgrund der Gefühle. Es ist die choreographische Leichtigkeit in der Fülle der Rätselbilder, der aufblitzende Humor, die virtuose Groteske und der Nonsense spielerischer Aktionen, was die Produktion so zwingend kurzweilig, so spannungsvoll wie unterhaltsam macht. Und es ist Rossinis wie von selbst fließende, kunstvoll elegante, dabei scheinbar arglose Musik, die diese atemlos verstörende Sinnsuche in einem großen Bilderbogen rhythmisiert. Eine Philosophie in Bewegung, ein Tanz auf den Projektionsflächen des Agnostizismus, Imaginationen der Verstörung in perfektem Timing - die hohe Kunst von Nico and the Navigators. Beim 'Agnus Dei' zieht die Ariensängerin den Performer so lange am Ärmel, bis er willenlos scheint. Darsteller verrenken sich in wildem Rhythmus oder stürzen zu Boden, zwei Tänzer vereinen sich zum Kampf-Pas-de-deux. Das 'Amen' am Ende des Credo wird von einer einzelnen Sängerin so nervend in die Wiederholungsschleife geschoben, bis ihr einer das Schweigen mit Bargeld abkauft. Am Ende Ovationen. Die Produktion der Rossini-Navigation zieht im Herbst ins Berliner Radialsystem. Nächstes Jahr gastiert sie in Frankreich, Österreich und Luxemburg.

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