„Die Zukunft von gestern“ in den Berliner Sophiensälen

Mit der locker-melancholischen Jubiläums-Show „Die Zukunft von gestern“ feiert sich das Nico-and-the-Navigators-Ensemble selbst. Seit 20 Jahren gehört die Truppe zur postdramatischen Off-Theater-Szene, die den aktuellen politischen Wandel an den Stadttheatern prägt. Der Performer Ted Schmitz steht vor einer breiten Leinwand mit einem schwarz-weißen Videowimmelbild: Lauter Menschen, die sich auf einer Rasenfläche versammelt haben, ein wenig Kommen und Gehen. Derweil erzählt der in den USA geborene Sänger von seiner Familiengeschichte. Wie geht das zusammen, das Private und die Masse? Plötzlich kommen die anderen sechs Performer auf die Bühne, um den Gegensatz zwischen dem Einzelnem mit seiner individuellen Erinnerung und der formlosen Masse des Videobilds im Hintergrund musikalisch zu versöhnen: Mit einer Hymne, einer gewissen Vorstellung von Amerikanität. Aalen in der eigenen Performance-Geschichte Reihum darf eine jede und ein jeder aus dem Nico-and-the-Navigators-Ensemble eine Geschichte aus der Kindheit erzählen, oder die Geschichte des Eintritts in das Ensemble. So sagt Patric Schott, er habe zwar in fast allen der über zwanzig Produktionen der Truppe mitgewirkt, aber all die Zeit höchstens acht Sätze sagen dürfen, habe aber oft nackt auftreten müssen. Einer der vielen Lacher der Geburtstagsaufführung, die sich locker-melancholisch in der eigenen Geschichte aalt und dabei die eine oder andere der selbstauferlegten Performance-Regeln vorführt: „Mit einer messerscharfen Schnitttechnik werden wir jetzt in diesen Körper eine völlig widersprüchliche Ausdruckebene einziehen: Mimik eines beleidigten, vorwurfsvollen Maulwurfes, und dann ganz widersprüchlich dazu eine Geste der oberen Extremitäten.“ Im Allerlei der szenischen Einfälle sind aber auch tänzerische Soli von Yui Kawaguchi und Anna-Luise Recke zu erleben, zu einer Life-Band-Musikbegleitung. Vom Barock zum Pop-Mainstream reicht das Spektrum, bis hin zu Cyndi Laupers „Time after Time“. Die Videoleinwand zeigt jetzt auch abstraktere Bilder, die Nahaufnahme einer geschliffenen Metalloberfläche, oder das immerfort aufbrodelnde Schraubenwasser am Heck eines Schiffes. Ach ja, man fährt und Zeit vergeht. Kuriose Randlagen in melancholischer Bildersprache In den zwanzig Jahren ihrer Existenz hat die Gruppe um Regisseurin Nicola Hümpel und Bühnenbildtüftler Oliver Proske in milder melancholischer Bildersprache Alltagsgegenstände zu bizarrem Eigenleben verholfen und die Menschen in kuriose Randlagen manövriert. Recht schnell haben sie den Schulterschluss zum Musiktheater gesucht. Nur das unterscheidet sie von all den anderen Truppen der postdramatischen Off-Theaterszene, die allesamt seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gegründet wurden. She She Pop feiert derzeit ihr 25-jähriges Bestehen und damit 25 Jahre der Recherche über Formen der weiblichen Selbstinszenierung, Shohcase beat le Mot wurde 1997 gegründet, Rimini-Protokoll entstand im Jahre 2000. Etwas jünger ist Turbo Pascal. Die allermeisten sind Kinder des Gießener Studienganges Angewandte Theaterwissenschaften, wo nicht die traditionellen Methoden der mimetischen Kunst zur Darstellung von vorgefundener Dramatik gelehrt werden. Sondern eigene Stoffentwicklung, Arbeit an biografischem Material, performative Formate, dokumentarisches Theater. All das wurde möglich durch ein Netzwerk von Spielstätten wie dem Hamburger Kampnagel, dem Berliner Hebbel am Ufer, den Sophiensälen, wo Nico and the Navigators als Artists in Residence begannen. Und es wurde möglich durch eine wenn auch zu spärliche, kontinuierliche Förderung der freien Szene. Befeuert von einigen Erfolgen der freien Gruppen, die sich zum Beispiel auch in Einladungen zum Berliner Theatertreffen zeigten, haben klassische Theaterhäuser die Zusammenarbeit mit der freien Szene gesucht. Turbo Pascal dockte vorübergehend am Deutschen Theater, Rimini-Protokoll am Hamburger Schauspielhaus an, und das sind nur zwei Beispiele. Nachhaltiger als die sporadische Zusammenarbeit von einer längst erwachsen gewordenen freien Szene mit dem hoch subventionierten Stadttheater ist aber der politische und ästhetische Einfluss ihrer Postdramatik. Ihre Probenräume wurden zu Experimentierfeldern für einen Darsteller, der nicht mehr im Dienste der Vorstellung hinter der Maske seiner Theaterfigur verborgen bleibt, sondern sich selbst in den Vordergrund stellt. In den Arbeiten der letzten Jahre haben unter anderen die früh verstorbenen Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff auf den großen Stadttheaterbühnen ihre Schauspieler immer auch zu Performern gemacht, das Spannungsfeld beleuchtet zwischen Zeichen und Bedeutung, Spieler und Figur. Experimente der freien Szene und der poltische Wandel des Theaters Die beliebten, großen Akteure des heutigen Theaters sind allesamt gleichermaßen große Schauspieler und aufregende Performer. Das Theater hat eine größere Komplexität bekommen, das Schauen hat sich verändert. Krise der Empathie, Krise der Stellvertretung, die Glaubwürdigkeitslücke des klassischen Theaters, all diese Phänomene eines schleichenden Kulturwandels hat die freie Szene ja nicht erfunden; sie hat nur schneller als das klassische Theater darauf reagiert. Deshalb experimentiert der Dokumentarfilmer Andres Veiel am Deutschen Theater in Berlin mit Formen dokumentarischer Dramatik, und unter anderem Yael Ronen mit biografischem Material in ihren Arbeiten am Gorki-Theater. Deshalb kann ein frei produzierender Dokumentar-Theatermensch wie Milo Rau in Belgien ein ganzes Stadttheater übernehmen. Daran, wie Geschichten beglaubigt werden, und wie sie für die Zuschauer in der Darstellung verbindlich erzählt werden, und wie das Publikum an diesem Vorgang beteiligt wird, all das ist derzeit einem politischen Wandel unterworfen. Und die freie Szene hat mit all dem in den letzten Jahren experimentiert.

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