Helden im Liebeswahn

Mit einer fulminanten Premiere von "Orlando" in der Inszenierung von Nicola Hümpel haben am Freitag die Händelfestspiele in Halle begonnen. Halle/Saale. Welch kurioser Held! In unscheinbar grauem Anzug tritt da ein schmalbrüstiger Bube auf die Bühne, auf dem Kopf eine alberne Kosakenmütze und in der Hand ein leerer Reisekoffer. Aus seinen Gesichtszügen spricht Einfalt. D'accord, er hat sich verliebt - aber auf welchem Niveau? Nicht nur sein Mentor, der weise Zauberer Zoroastro, gibt sich damit nicht einverstanden: Das soll Roland, der Recke, sein? Der Edelste unter den Rittern Karls des Großen? Aber Händel, der gerissene Musikmagier und Opernstratege, hat diese Orlando-Figur in der Tat derart schräg angelegt, und die gleichnamige Oper, 1733 auf einem Höhepunkt des Erfolgs in London als Komödie konstruiert, als die Travestie eines Heroen, der, von Liebe verblendet, sich ob seines unmäßigen Wesens in Eifersucht, schließlich in Wahn, ja Raserei hineinsteigert. Der berühmte Farinelli, Händels Vorzugs-Kastrat, war not amused. Das Hallenser Festspielpublikum dafür umso mehr. Der neue Intendant Clemens Birnbaum hat die Verantwortung für die Auftaktpremiere in die Hände Nicola Hümpels gelegt, einer Kultregisseurin der freien Szene, die mit "Nico and the Navigators" schon Berlin aufgemischt hat. Ein Wagnis? - Ein Glücksgriff! Denn Nico kann und will sich mit barocken Exaltationen gar nicht identifizieren. Sie wählt eine kühle, ironische Distanz und lässt die Figuren wie mechanische Gliederpuppen an den Fäden ihrer ver- wie entrückten Affekte zappeln. Dazu genügen ein kärgliches Bühnenarrangement (Oliver Proske) vor blaugrauem Rundhorizont und schlichte Kostüme (Frauke Ritter). Videosequenzen (Tom Hanke) tragen illustrativen wie kommentierenden Charakter. Mimik und Gestik der Akteure entsprechen ihrem schematisierten Gefühlsrepertoire. Einen Coup de maîtrise landet Hümpel allerdings, indem sie zwei ihrer Navigators, Miyoko Urayama und Patric Schott, einfügt: Sie steuern und unterminieren das Spiel mit klugem Klamauk; der Reigen der amourösen Entzündung wird vorgeführt wie eine Moritat. So wird, wer auch immer in Ekstase entflammt, als Depp hingestellt. Zum Beispiel Medoro, der Rivale Orlandos um die Gunst der holden Angelica, oder die naive Schäferin Dorinda. Sobald sie in den höchsten Tönen ihre sehrenden Sehnsüchte beichtet, ribbeln die frechen Pantomimen ihr die knallroten Strickstrümpfe auf. Indessen besorgt Medoro, in ähnlicher Lage, es sich selber, d. h. seiner grotesken Häkelkrawatte - eine Entblößung, im Wortsinn, als Lohn der Entblödung. Als Dorinda Medoro anhimmelt, regnet es Wattebäusche. Und als die pastorale Liebeselevin am Schluss als einzige unbeglückt dasteht, ist sie zu recht die Begossene. Keine überkandidelte Duselei bleibt ungestraft, ungebrochen. Duell der Stimmen auf höchstem Niveau Auch wenn damals eine dermaßene, bis ins Absurdistisch-Boshafte neigende Abgründigkeit nicht vorstellbar war, so ist das doch, auf heutige Weise, ganz aus dem Geiste Händels interpretiert. Das adlige Publikum sollte sich ja nicht unbedingt mit diesen heroischen Komödianten wider Willen identifizieren, sondern sich höchstens an ihrem Gesang weiden. Und was die Hallenser Solisten in musikalischen Belangen zu bieten hatten, war à la bonheur. Selten hat man bei ähnlicher Gelegenheit ein derart vorzügliches, ausgeglichenes Ensemble erlebt. Lokalmatador Christoph Stegemann bestach als Zoroastro mit stabilem, klar konturiertem Bass. Marie Friederike Schöder hatte nur zuweilen, da aus dem Mozartfach, mit Angelicas luftigen Koloraturen ein wenig Not, indessen Sophie Klußmann die Verheißung unschuldig arkadischer Anmut erfüllte. Alle drei gehören der Hallenser Oper an. Das Duell zwischen Owen Willetts, Orlando, und Dmitry Egorov, Medoro, zwei wunderbar fruchtigen Altisten mit divergierender Färbung, endete mit einem Remis auf höchstem Niveau. Kapellmeister Bernhard Forck leitete das Festspielorchester, das enorm spielfreudig und bewährt kompetent auf authentischen Instrumenten musizierte, stets souverän, mit professionellem Gespür für delikate Akzente wie dramatische Stringenz. Das Resultat war ein herrlich straffer, röscher Händel-Sound. So delektierte sich das Publikum prächtig an einem musikalisch wie szenisch hochartifiziellen, herzhaft humorigen Spiel. Für diesen "Orlando furioso" spendete es keinen gewöhnlichen Schlussapplaus. Es raste.

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