„Ich gehe nicht auf Wolken, sondern auf der festen Erde“ – die Wahrheit in „The whole Truth about Lies“

Schon der Titel "The whole Truth about Lies" ist dialektisch angelegt: Wenn es sich um Lügen handelt – wo ist dann die Wahrheit? Doch vielleicht lassen sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Arten von Lügen gemeinsame Muster und sogar ein kollektives Verständnis von Lüge extrahieren – und in eben dieser Analogie könnte sich ein Stück Wahrheit finden.


„Ich gehe nicht auf Wolken, sondern auf der festen Erde“ – dieses berühmte Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein steht für die Weisheit, die im gelebten Alltag wurzelt, nicht in luftigen Höhen oder in den Sternen. Glück findet sich nicht am Ende einer erklommenen Leiter, sondern im festen Stand auf dem Boden und in dem, was wir in den Händen halten.


Im Rahmen des "DIGI MUSE – Festival für Musik und technologische Innovation 2025" feierte kürzlich in der Cadillac Shanghai Concert Hall das Musiktheaterstück "The whole Truth about Lies", eine Koproduktion des deutschen Ensembles Nico and the Navigators und der Schwetzinger SWR Festspiele, seine Asienpremiere. Dieses Werk, das künstlerisch auch KI-Technologien integriert, interpretiert Wittgensteins Gedanken in einer eindrucksvollen Bühnenform.

Auch die Raumgestaltung dieser Inszenierung ist bemerkenswert. Eine einseitig durchlässige Spiegelwand erstreckt sich von links nach rechts über die gesamte Bühnenmitte und teilt die Spielfläche in verschiedene Zonen. Aus der Perspektive des Publikums erscheinen die Darsteller zwar im selben Raum – tatsächlich jedoch sind sie durch die Spiegelwand voneinander getrennt und bewegen sich in unterschiedlichen, wechselseitig blinden Dimensionen.


Die realen Körper und ihre zahllosen Spiegelbilder auf der Bühne ähneln sich zwar äußerlich, sind aber letztlich grundverschieden. Gerade dieses Bühnenbild verweist auf ein aktuelles Thema: die KI-Illusion. Hier wird die ästhetische Wirkung von KI nicht nur sichtbar gemacht, sondern zugleich ihre Grenzen und Brüche offengelegt.


Eine der Wahrheiten über Lügen lautet: Lügen klingen (oder erscheinen) oft schöner als die Realität. Obwohl auf der Bühne lediglich einfache Requisiten wie Rollen von Toilettenpapier zum Einsatz kommen, verwandeln sich die Bilder – Dank in den Bühnenraum integrierter Live-Kameras und KI-gestützter Projektionen – auf der Spiegelfläche in ästhetisierte Illusionen. Eine Sängerin steht schlicht in Weiß gekleidet auf der Bühne und singt Richtung Publikum. Ihr Partner legt ihr Bahnen von Toilettenpapier um die Schultern. Doch im Spiegelbild verwandelt die KI die Szenerie: Das Papier wird zur traditionellen Haube und zu Rockbändern – wie eine zum Leben erwachte Ölmalerei aus vergangenen Jahrhunderten.

Eine weitere Wahrheit über Lügen: Es wird sich immer jemand finden, der sie glaubt. Während die Verwandlung des Papiers in fließende Stoffe noch als offensichtliche ästhetische Überhöhung erkennbar ist, führt das Geschehen beim Einsatz von „Les oiseaux dans la charmille“ – der sogenannten Puppenarie aus Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen" – in tiefere Schichten der Inszenierung.


Abgesehen von der KI-basierten Spiegelillusion entstehen alle weiteren künstlerischen Effekte auf der Bühne durch menschliches Handwerk. Einer der Tänzer zeichnet mit Toilettenpapier die Umrisse eines Hauses auf den Bühnenboden und setzt sich anschließend hinter die Spiegelwand — im projizierten Spiegelbild sieht es so aus, als säße er am Fenster eben jenes Hauses. Die Tänzerin am Boden vor dem Spiegel – scheinbar neben dem Haus sitzend – und er agieren in getrennten Dimensionen, doch der Spiegel führt sie sichtlich zusammen. Die Sängerin der Puppenarie, die sich im selben realen Raum wie der Tänzer befindet (auf der anderen Seite des Spiegels), begleitet das Geschehen mit Ukulele und Gesang. Für die Zuschauer wirkt nun die Tänzerin – die den Hausrahmen abträgt und immer wieder versucht, die imaginäre Mauer zu durchbrechen – wie die vermeintliche 'Dritte im Bunde'. Doch ihr Versuch einer Annäherung wird stets von den Klangwellen der Ukulele zunichte gemacht.

In dieser Szene bleibt offen: Wer ‚sagt‘ hier die Wahrheit, wer lügt? Die drei Figuren sind zwar durch Spiegel getrennt und bewegen sich auf verschiedenen Ebenen – erzeugen eine Illusion - und doch neigen wir als Zuschauer stets dazu, unserem ‚gelenkten Blick‘ Glauben zu schenken.


Eine weitere Wahrheit über Lügen lautet: Es scheint, als könne eine einzelne Person stellvertretend für viele sprechen. 1965 schrieb der US-amerikanische Sänger Barry McGuire das Anti-Kriegs-Lied "Eve of Destruction", eine scharfe Anklage gegen die damalige amerikanische Gesellschaft.

Auf der Bühne singt der Schlagzeuger dieses Lied, gekleidet in eine orangefarbene Rettungsweste. Gleichzeitig erscheint sein Bild auf der Spiegelfläche – doch neben ihm wird ein KI-generiertes Abbild sichtbar, ebenfalls mit orangefarbener Rettungsweste. Im Verlauf des Songs verändert sich dessen Gesicht ebenso wie einzelne Details der Weste kontinuierlich, sodass im Spiegel immer neue Gesichter erscheinen. Damit entsteht der Eindruck, als würde der Sänger mit der Stimme vieler singen. Doch bleibt die Frage: Kann ein Einzelner tatsächlich für viele sprechen? Wahrscheinlich nicht.


Eine weitere Wahrheit über Lügen lautet: Lügen sind oftmals fehlerhafte Kopien der Wahrheit – doch wenn sich diese Kopien zusammenschließen, können sie die Wahrheit überwältigen.

Zu den Klängen von Chopins 2. Klaviersonate "Grave; Doppio Movimento" stehen hinter der Spiegelwand zwei Männer, die miteinander in Konflikt geraten. Als Tänzer A plötzlich als Double im Spiegelbild erscheint, scheint ihm dieses zusätzliche Abbild zunächst als Helfer zur Seite zu stehen. Doch das Spiegelbild – gefangen im Rahmen der Spiegelfläche und ohne erkennbare Füße – bleibt eine fehlerhafte Kopie. Kurz darauf erscheint auch das Double von Tänzer B.

Schließlich geraten mehrere solcher fehlerhaften Kopien in einen immer chaotischeren Kampf. Am Ende sind es die beiden realen Tänzer selbst, die erschöpft zu Boden gehen.

Die musikalische Struktur von Chopins Sonate, in der sich lyrische, dramatische und kontrapunktische Elemente kunstvoll überlagern, spiegelt sich in dieser Szene perfekt wider: Die innere Logik von Musik und Bildgestaltung verbindet sich hier zu einer eindrucksvollen philosophischen Reflexion über Lüge und Wahrheit. Und genau darin liegt die Raffinesse dieser Inszenierung.


Das gesamte Stück lebt vom Kontrast zwischen der geerdeten Realität auf der Bühne und den Spiegelbildern sowie den dahinter liegenden imaginären Räumen. Zunächst scheint die Beziehung zwischen Boden und Spiegelbild klar: eine simple Spiegelung, allenfalls seitenverkehrt und mit einer Sekunde Verzögerung. Doch allmählich offenbart sich, wie vielgestaltig und manipulativ diese scheinbare Spiegelwelt sein kann.

Ein Großteil der projizierten Bilder entsteht aus den Bewegungen der Darsteller*innen, die auf dem Boden liegend agieren. Damit ihre Spiegelbilder scheinbar mühelos Berghänge erklimmen; in Abgründe stürzen; gen Himmel fliegen oder schwerelos durchs Wasser gleiten, choreografieren die Tänzer*innen ihre Körper am Boden in mitunter äußerst verdrehter und anstrengender Art und Weise.

Man könnte es so verstehen: Es erfordert oft viel mehr Anstrengung, als sichtbar wird, um es nach außen hin leicht und mühelos erscheinen zu lassen – oder anders gesagt: Wahrheit ist mühsam zu erlangen, während schöne Illusionen, die sich als Wahrheit ausgeben, oft trügerisch leicht daherkommen.


Die Musik, insbesondere die Liedtexte, die sich stilistisch von klassischer Musik über Kunstlied bis hin zu Pop erstrecken, bildet die dramaturgische Klammer des Abends und gestaltet die emotionale Dramaturgie, die sich in enger Verbindung mit Tanz und Bewegung entfaltet.

Nach einer weiteren Klaviersonate von Chopin – dem berühmten „Trauermarsch" – erscheint ein Schauspieler mit nacktem Oberkörper auf der Bühne, der symbolisch für die Lüge steht. Er bewegt sich fanatisch um sich selbst und dabei raumgreifend wie ein Sektenführer und sammelt seine Schäfchen, die ihm orgiastisch ergeben sind.


Zum Finale, begleitet von John Lennons "Gimme Some Truth", entfaltet sich auf der Bühne ein weiteres kraftvolles Bild: Die Künstler*innen rollen singend nacheinander herein und kommen nebeneinander wie in einem großen Bett zum Liegen – jeder mit einem Kissen unter dem Kopf – und reißen Bahnen von Toilettenpapier ab, um damit das Wort LOVE zu formen. Gleichzeitig kriechen sie unter ein riesiges Laken und finden dabei jeweils Halt und Nähe beim Nächsten. Mit dem letzten Ton des Liedes entreißen acht der Darsteller*innen dem Lügen-Darsteller das Laken und lassen ihn schließlich unbedeckt und isoliert am Bühnenrand liegen.

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