Jenseits von Mitte

"Kain, Wenn & Aber" - Abschied von Nico and the Navigators Sie drehen ein letztes Mal den halbrund gebogenen Holzkasten um: Nur ein grau-blauer Holzkasten? Kommt drauf an, was man daraus macht. Und so ist der Kasten plötzlich eine Wippe, aus der Wippe wird eine Bar, hinter der jemand unsichtbare Cocktails schüttelt, während sich vorne einer aufstützt, wie es nur Betrunkene tun, und eine Frau mit lasziver Geste um Feuer bittet, als dürfe es auch die ganze Nacht sein. Diese Szene ist die Zugabe des neuen Abends von Nico and the Navigators und fasst in zeitloser Schönheit die sechsjährige Arbeit der Gruppe zusammen: herauszufinden, wovon die Dinge erzählen und wie sie auf die Menschen zurückschlagen, deren Sätze wiederum zu Gegenständen werden. Die Regisseurin und Künstlerin Nicola Hümpel, Bühnenbildner Oliver Proske und ihre sieben Performer entfesseln mit dieser Spielweise Welten. Mochten sich andere freie Gruppen in den vergangenen Jahren durch experimentelles Dekonstruieren auf der Bühne gegen das psychologisierende Erzählen stemmen, haben Nico and the Navigators sich um Unaufdringlichkeit gesorgt, mehr gestaltet als gespielt und Stücke entworfen, in denen Menschen knetbare Urmaterie sind. Auf der Bühne verwandelt sich einer in einen Friseur, scheitelt seinem Kunden das Haar rechts, scheitelt wieder links, bis sich das Entscheidungsproblem im Zerwühlen der Frisur auflöst. Der Titel „Kain, Wenn & Aber“ deutet an, dass es um einen modernen Katechismus individueller Selbstbehauptung im Bewusstsein alttestamentarischer Kräfte geht. „Bestimme ich eigentlich, was passiert, oder bestimmt meine Bestimmung“, heißt es zu Beginn des Abends, der als letzter in dieser Ensemble-Konstellation angekündigt ist. Nicola Hümpel, Kopf der Gruppe, will zukünftig international arbeiten, nachdem sie auf zahlreichen Festivals im in- und Ausland die Herzen erobert hat. Da konnte die Entscheidungsfindung gleich selbst ausprobiert werden. Welche Strategie wählt man? Einer schleicht konzentriert mit einem Pendel über die Bühne, ein anderer trainiert Boxschläge, Tarotkarten werden gelegt. Die Multifunktions-Holzelemente auf der grau-blau angepinselten Bühne fahren zu Podesten hoch, auf denen Brandreden gehalten werden – Appelle, die unaufdringlich mehr an den Sprecher selbst gerichtet sind als ans Publikum. Ein Papier, das genau studiert wird, entpuppt sich als Horoskop. Aber die Dinge haben ihre Risse, jede Hoffnung wird mit sanfter Ironie abgekühlt. „Scheiß Astrologie“, flucht die Frau später und leitet den zweiten Teil des Abends ein: Da gab es mal Entscheidungen, die getroffen wurden und Erinnerungen daran wecken, dass sie getroffen wurden. Die Geschichten, die sich dazwischen abgespielt haben, schweben lautlos wie Ballons über den Figuren, die sich gleich Lemuren in Zeitschleifen bewegen. Ein beklemmend schöner, so formsicherer wie sanfter Abend, der den menschlichen Erschöpfungszuständen einige glückliche Momente abtrotzt. Nico and the Navigators touren mit „Kain, Wenn & Aber“ nun durch Europa, nachdem ihr Abschiedsstück zunächst in den Berliner Sophiensaelen gezeigt wurde.

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