Kindheitsmuster im Frühstücksbrötchen
Nico and the Navigators zeigen ihr neues Stück "Der Familienrat" Dessau/MZ. Die Brötchen der Kindheit sind blass und trocken, sie quellen im Mund wie erstickende Knebel oder zerbröseln bei der leisesten Berührung. Gewiss könnte man aus ihnen kleine Teigkügelchen formen oder sie mit dem Finger durchbohren – was man aber natürlich nicht wollen soll. Und selbst wenn man den Ernährungs-Ideologen Glauben schenkt, die gesündere Unterhälften angeblich dem eigentlich begehrterem Gegenstück vorziehen: Immer bleiben am Ende Krümel zurück, die unter den Füßen knirschen und sich nur mit großer Mühe beseitigen lassen. Mit ihrem neuen Stück „Der Familienrat“, das nach Vorstellungen in Berlin und Düsseldorf dank der Finanziellen Förderung durch das Nationale Performance Netz am Bauhaus Dessau zu Gast sein kann, suchen Nico and the Navigators nach Kindheitsmustern in einer Gegenwart. Dabei wirken sie im dunklen Winkel unter der Treppe, am Klettergerüst oder am Festtagstisch so verloren und dünnhäutig wie nie – was bei der inzwischen an den sophiensælen in Berlin-Mitte heimischen Truppe natürlich nicht in Tristesse ausartet. Davor wird das Ensemble um Regisseurin und Kostümbildnerin Nicola Hümpel schon durch Oliver Proskes Bühnenbild geschützt, das sich einmal mehr als Wunderkammer entpuppt: Flügeltüren verwandeln sich hier unversehens in tatsächliche Schwingen, solide Wände öffnen sich in geheime Kammern und ein Schuhregal macht sich berechtigte Hoffnung auf ein neues Leben als Showtreppe. Das dunkle Rot und die Messingbeschläge geben dem raum eine repräsentative Anmutung, die durchaus an eine „gute Stube“ denken lässt. Ein solcher Schutz- und Schamraum ist es auch, in dem die sieben Darsteller ihre überraschend beständigen Charaktere entwickeln. Hinter den Verdrängungen und Kompromissen, die für das Zusammenleben jeder Familie überlebensnotwendig scheinen, entdecken sie die Hackordnungen der Generationen und Geschlechter, deren Kulmination zuletzt in der Film-Adaption „Das Fest“ durch Michael Thalheimer ablesbar wurde. Bei den Navigatoren aber braucht es keine Wortkaskaden, um das Verschwiegene aufzuwühlen oder zuzudecken. Die Erfahrungen äußern sich direkt in physischen Defekten, die als nervöser Tick beginnen und in kleinen Katastrophen enden können. Dass man selbst aus solchem Desaster auch in der Wirklichkeit wieder in einen Alltag finden muss, kommt der vordergründig anekdotischen und doch psychologisch verzahnten Spielweise des Ensembles sichtlich entgegen. Dabei passen sich die beiden neuen Akteure auf fast schon gespenstische Weise in das darstellerische Spektrum ein: Fast hat man das Gefühl, als hätten genau diese beiden Gesichter bislang gefehlt. Dass sie sich nun in jene „Family Affair“ mischen, die im schlafwandlerischen Soundtrack einmal als „Brüder unter Waffen“ beschrieben wird, bleibt eine glückliche Fügung.
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