Liegen ist Fliegen
"Quartett", Heiner Müllers Kondensat aus Choderlos de Laclos' "Gefährlichen Liebschaften" über die zynischen Macht- und Erotikspiele der korrupten höfischen Gesellschaft im Frankreich vor der Revolution, geht eigentlich schon an die Grenze des Erträglichen. Aber Nico and the Navigators wollen noch mehr.
Wieso zum Quadrat? Das "Quartett" von Heiner Müller ist schon für sich genommen das Äußerste, das zu ertragen ist: dieses Kondensat von Choderlos de Laclos' "Gefährlichen Liebschaften", dieser zynische sexuelle Vernichtungsfeldzug ohne die verbrämende Eleganz des Laclos-Briefromans. Nico and the Navigators setzen im Berliner Radialsystem noch eins drauf, nein: Sie versuchen sich an der Quadratur des bösen Spiels. Schauspiel hoch Tanz hoch Musik. Es ist zu viel.
Animalischer Jagdtrieb
Es ist ein Vergnügen, Martin Clausen und vor allem Annedore Kleist in den Rollen des routinierten Verführungsmonsters Valmont und seiner bitteren Komplizin Merteuil zu sehen. Man würde zu gern sagen, Heiner Müllers Stück sei schlecht gealtert im 21. Jahrhundert – nach #MeToo und Epstein, angesichts des fortwährenden Skandals namens Trump und des Entsetzens über die Verbrechen an Gisèle Pelicot und zu vielen anderen Frauen. Aber Valmonts Perfidie und Merteuils Zynismus treffen noch immer ins Schwärzeste – ist das, was Valmont verbricht, so viel anders als das heutige Grooming? –, und Clausen und Kleist sind in ihren changierenden Rollen einfach gut, wobei sie ein besserer Valmont ist als er eine Madame Tourvel. Beide tragen, solange sie sich nicht ausziehen, viel totes Tier am Leib, Fuchskragen, Pelzmantel, Schlangenlederstiefel, als müsste das erbarmungslos Animalische ihres Jagdtriebs noch hervorgehoben werden. Auch hier: Es ist zu viel.
Schwerelos im Kippspiegel
Für den Abend hätte das Kammerspiel des Duos Kleist und Clausen plus das Ensemble "Kuss Quartett" vollauf genügt. Das Streichquartett, kostümiert in Soutanen, streut Passagen aus Leoš Janáčeks Quartetten "Kreutzersonate" und "Intime Briefe" ein, die das Geschehen weniger zu untermalen als in Echtzeit zu kommentieren scheinen – nervös und fiebrig, sehnsuchtsvoll postromantisch, flirrend, kühl oder schwelgend. Nico and the Navigators wollen mehr. Sie vexieren ihre Laclos-Müller-Adaption mit einem kippbaren gläsernen Bühnenbild-Element, das als Spiegel ebenso funktioniert wie als einfache Glasscheibe oder als Projektionsfläche, auf der 2- und 3D-Bildfolgen eingespielt werden. Das ist raffiniert und bietet viel fürs Auge. Bewegungen, die das Tanzduo Yui Kawaguchi und Martin Buczko auf dem Boden liegend vollführt, sehen im Kippspiegel geradezu schwerelos aus: Liegen ist Fliegen.
Sehenswerte Effekte, grollende Sounds
In anderen Szenen wandern Kawaguchi und Buczko durch ein virtuelles Treppenhaus, stolpern pantomimisch Stufen hinunter, die nur im Film existieren. Sehenswerte Effekte, die aber in jedem anderen Stück ebenso beliebig einsetzbar wären. Für die Ausdeutung der "Quartett"-Figurenkonstellationen bringen sie wenig. Und als könnten die Janáček-Streichquartette das Stück nicht tragen, als wären das "Kuss Quartett" – und das zusätzlich eingesetzte Trompete-Schlagwerk-Duo – nicht genug, müssen die akustischen Zwischenräume permanent mit ominös grollenden Sounds gefüllt werden. Es ist zu viel.
Sarkastischer Humor
Dass das Stück nichts auslässt, von der sexuellen Perversion über Leichenschändung und Fäkal-Ekel bis zum Suizid der Madame Tourvel im Alkohol- und Blutrausch – darauf ist eingestellt, wer sich dem Duo Laclos und Müller aussetzt. Die Akteure auf der Bühne schonen weder sich noch ihr Publikum. Die Stärke der Inszenierung ist, dass sie trotz allem niemals das Spielerische, den sarkastischen Humor verliert. Ihre Schwäche ist das Zuviel.
Kritikenrundschau
Einer "überbordend bild- und tonstarken Inszenierung", ja einer "Kreativitäts-Explosion" begegnete Sören Kittel von der Berliner Morgenpost (5.12.2025) im Radialsystem. Die "derben Texte" von Heiner Müller würden "präzise und in aller Rohheit präsentiert".
"Ein sehr starker Abend" war es für Andreas Montag von der Mitteldeutschen Zeitung (6.12.2025). Das Team konfrontiert den Müller-Text "mit den emotionalen Streichquartetten von Leoš Janácek (live vom Kuss-Quartett), Jazz von Paul Hübner (Trompete, Sounds) und Lorenzo Riessler (Schlagwerk) sowie furiosem Tanz von Martin Buczko und Yui Kawaguchi".
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