Man töte diese Mücke!

Auch die temporäre Verblödung, die der Liebesakt mit sich bringt: Die Oper Stuttgart bereitet Philippe Boesmans’ lukullischer Schnitzler-Oper „Reigen“ einen pfiffigen Auftritt. Der Skandal, den die Uraufführung von Arthur Schnitzlers „Reigen“ vor 96 Jahren auslöste, ist zwar nicht mehr vorstellbar. Gekicher begleitet zumeist aber bis heute die promiskuitiven Vorgänge quer durch die gesellschaftlichen Schichten und ist ebenfalls ein Zeichen von Verlegenheit. Der belgische Komponist Philippe Boesmans schrieb zudem durchaus Musik auch für die Zeit zwischen dem Davor und dem Danach, um die es bei Schnitzler geht. Regisseuren gibt er damit die Gelegenheit und Aufgabe, eine irgendwie geartete Sexszene nach der anderen zu zeigen, um es einmal blank auszudrücken. Ungemein liebevoll löst das in Stuttgart Regisseurin Nicola Hümpel. Menschen versinken in Matratzen, flutschen vom selbsttätigen Bett, verschlingen sich extraordinär, hantieren wie von ungefähr mit phallisch verformten Sofakissen, rollen sich im Moorbad, und sie kauen tatsächlich auch auf einem Wiener Würstchen herum. Der Mensch tut, was er kann, aber letztlich reicht es doch nicht. Auf einer Videoleinwand, einer endlich einmal sinnig und unverschämt eingesetzten Videoleinwand, sieht man die Gesichter in Nahaufnahme. Nacktes Entsetzen kann sich auf ihnen spiegeln, die temporäre Verblödung, die der Liebesakt mit sich bringt, die Hässlichkeit der Gier. Die Musik echot sich selbst und andere Dazu rauscht, zirpt, klimpert die Musik und echot sich selbst und andere. Ersteres in einem Gespinst aus Motiven, die von einer Szene in die nächste herüberzuwehen scheinen. Zweiteres in einem hohen Zitataufkommen, direkt – die „Salome“-Verballhornung „Man töte diese Mücke“ – und indirekt durch Wagner- oder Bach-Imitate. Die Figuren, erotisch animiert, sind pathetisch hochgestimmt nach Art des Jahres 1920. Und neuere Avantgarde ist ohnehin nicht das Thema, wenn Boesmans auf den Spielplan kommt. Stattdessen zeigt sich, wie die relativ tonale Oper beim (in Stuttgart nach gut drei Stunden begeisterten) Publikum eine Zukunft über das bereits Bekannte hinaus haben könnte. Debussy’scher Impressionismus und Richard-Strauss-Rauschmittel werden ins Heute verlängert und mit Frechheiten angereichert (was bereits Strauss nicht fremd war). Die Wirkung ist unmittelbar und originell, auch wenn Epigonales darinsteckt und überhaupt nicht versteckt wird. Farbig und edel rollt das Staatsorchester Stuttgart Boesmans lukullische Musik unter der Leitung von Sylvain Cambreling aus, der die Uraufführung 1993 in Brüssel dirigierte. Luc Bondy lebt nicht mehr, der Librettist, der Schnitzlers Text aufpeppte und auch gewiss nicht vorhatte, ihn zu vertiefen oder stärker zu durchgeistigen. Komponist Boesmans reiste aber an, und Kollegen wollen Tränen der Rührung in seinen Augen gesehen haben. Wenige neue Opern haben 23 Jahre nach der Uraufführung noch einmal Gelegenheit, aufzutrumpfen. Das Konzept Hümpels ist bedingungslos komödiantisch, aber noch das Albernste ist wohleingerichtet. Was ist das Albernste? Vielleicht die, äh, aus Schaumgummi geformten, langsam sich ausfahrenden Penisse? Das Maßgeschneiderte zeigt schon das perfekte Bühnenbild von Oliver Proske. Die knapp am Wahrscheinlichen vorbeigehenden Möbel für die jeweilige Szene kommen auf einer Drehbühne hereingefahren, zwischen Raumteilern mit lustigen Tapeten, zwischen denen Betten, Tische, Menschen mittels exakt ausgesägter Löcher durchpassen. Oder auch nicht, dann fällt die Stehlampe beim Weiterrollen der Bühne langsam um, wie auch dem Manne nicht in jeder Situation Stabilität beschieden ist. Fünf Solistinnen und fünf Solisten tun sich stimmlich mit ihren übersichtlichen, aber substanziellen Auftritten wunderbar leicht und sind auch schauspielerisch sehr gefordert: Lauryna Bendziunaite (eine feine Dirne) und Daniel Kluge (ein kompakter Soldat), Stine Marie Fischer (ein resolutes Stubenmädchen) und Sebastian Kohlhepp (ein tropfiger junger Herr), Rebecca von Lipinski und Shigeo Ishino (ein urkomisches Ehepaar), Kora Pavelic (ein äußerst zielorientiertes süßes Mädel) und Matthias Klink (ein Narzissmus und Selbstironie treffliche einender Dichter), Melanie Diener (eine Diva in Ton und Bewegung) und André Morsch (ein Helge-Schneider-hafter Graf). Dass den Akteuren auf der Bühne in ihrer menschlichen Unzulänglichkeit ein zartes Leinwand-Liebespaar (Julia von Landsberg und Michael Shapira) gegenübergestellt wird, ist nicht zwingend, aber auch nicht läppisch. Dass Hümpel sich einen Spaß daraus macht, durch Requisiten-Wiederholungen noch andere außer den gezeigten Liebespaarungen anzudeuten, geht ebenso in Ordnung. Vielfalt ist die Devise des Abends, Alpträumchen sind dabei. Aber die finsteren Seiten des Begehrens, Profitierens, Ausbeutens haben hier keinen Ort, nicht bei Bondy, nicht bei Boesmans, nicht bei Hümpel.

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