Mit Brille sieht man mehr – „Nico and the Navigators“ laden zur Bauhaus-Recherche
Nun macht die innovative Theatergruppe Nico and the Navigators ihrem Namen einmal mehr Ehre: War das Hinauswagen ins Unbekannte, das Navigieren auf neuem Terrain von jeher das ästhetische Konzept des Kollektivs mit wechselnden Mitwirkenden, das vor 21 Jahren von Nicola Hümpel und Oliver Proske am Bauhaus Dessau gestartet ist, geht es auch jetzt mit der Produktion „Verrat der Bilder“ um eine künstlerische Expedition der besonderen Art. Das rund 70-minütige Stück hat die Matrix des Bauhauses, das vor 100 Jahren in Weimar gegründet wurde, zum Thema - und als doppelte Kulisse. Gespielt wird an und in den Meisterhäusern in Dessau, gespielt wird aber auch mit einer erweiterten Realität, die von Zeugnissen der Bauhäusler und der deutschen Geschichte bis in unsere von Technik geprägten Gegenwart reicht. Dank aufwendig programmierte AR-Brillen wird die Zeitreise nicht nur textlich grundiert und fabelhaft gespielt von Annedore Kleist, Patric Schott, Michael Shapira und Pauline Werner in wechselnden historischen Rollen, sondern eben auch durch verblüffende virtuelle Effekte der „Augmented Reality“ in seiner Wirkung verstärkt. Historischer Gemüsefond Da kann sich der Besucher, eingangs gestärkt durch einen von der Regisseurin Nicola Hümpel nach historischem Rezept persönlich geköchelten, köstlichen Gemüsefond, beim Aufstieg im Haus Muche/Schlemmer die Treppe mit farbigen Quadern, Pyramiden und Kugeln belegen. Später interagieren elektronische Darsteller-Klone mit den „echten“ Akteuren auf der Bühne. Die tragen, im Gegensatz zu den Zuschauern, keine Brillen, müssen sich aber in dieser bunten Gesellschaft aufs Stichwort bewegen und sich zu der virtuellen Wirklichkeit im fiktiven Spiel verhalten. Und man kann, einen multifunktionalen Stick in der Hand haltend, auch seine eigenen Bilder in den Raum malen. Das, was Oliver Proske, der üblicherweise für Bühne, Raum und Licht der Navigators-Produktionen zuständig ist, hier gemeinsam mit Programmierern „gebastelt“ hat, ist für beide Seiten, Künstler wie Publikum, herausfordernd. Aber der lustvolle Griff in die Möglichkeiten der Zukunft ist nicht nur ein Spiel, sondern hat natürlich einen unmittelbaren Bezug zur Geschichte des Bauhauses, das wiederum selbst ebenso gern spielerisch wie experimentell war, vielgestaltig sowieso - und auch widersprüchlich. All das kommt in den Zitaten der Bauhäusler direkt zur Sprache, einschließlich vorgeturnten Körperkults, esoterischer Abschweifungen, höchst sonderbar und gefährlich sektiererisch anmutender Regeln für die Zeugung gesunden, „hochwertigen“ Nachwuchses. Daneben stehen kritische Worte aus dem Bauhaus über das Bauhaus, zum Beispiel vom Gropius-Nachfolger und Verfechter des Neuen Bauens Hannes Meyer, der 1930 aus politischen Gründen als Direktor entlassen worden war. Vielgestalt wird plastisch So fügt sich auf dieser intelligenten, bildenden Zeitreise ein Kaleidoskop, das einen schlüssigen Eindruck von der Vielgestalt des Bauhauses gibt. Gertrud Grunow zum Beispiel, die eigentlich Sängerin war und sich am Bauhaus um die „Harmonisierungslehre“ kümmerte, kommt mit raunenden Sätzen wie diesem Wort: „Deutlich ist der gehemmte Intellektualist von dem strömenden naiven Menschen zu unterscheiden, deutlich die Wesensart der Frau von der des Mannes...“. Darüber kann man eine Weile nachdenken. Oder auch nicht. Ein Wort des Malers Lyonel Feininger hingegen lässt sich mühelos und gewinnbringend in die kulturpolitischen Debatten der Gegenwart weitersagen: „Kunst ist nicht Luxus, sondern Notwendigkeit“. Das trifft in vollem Umfang auch auf die Produktion „Verrat der Bilder“ zu, ein doppelsinniger Titel im Übrigen: Die Bilder, real-fiktionale wie virtuelle, verraten etwas über die Bauhäusler und ihren Ideenkosmos - und zugleich ist der Verrat an diesen Ideen und vielen ihrer Träger gemeint, die von den Nationalsozialisten gehasst, verfemt, verfolgt und auch getötet wurden. Am Ende des eindrucksvollen, gelungenen Spiels wird an die jüdischen Emigranten erinnert - und an jene Bauhäusler, denen die Flucht aus Deutschland nicht gelang. Porträts von Frauen und Männern liefert die AR-Brille nun. Und Bilder von KZ-Baracken. Da hilft die virtuelle Realität der Erinnerung an die Geschichte auf die Sprünge.
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