Nico & the Navigators: Pfadfinder zum Paradies
Nach "Cantatatanz" bei den Bachwochen beschenken Nico & the Navigators ihre rapide wachsende Thüringer Fan-Gemeinde zum zweiten Mal mit einer Uraufführung. In einem oratorischen Bildertheater nimmt die Kult-Truppe aus Berlin sich nun der Petite Messe Solennelle Gioacchino Rossinis an - eines Spätwerks mit spartanischer Besetzung und reichhaltigem Potenzial für ironische Brechungen. Das Stück entsteht als Koproduktion des Kunstfests Weimar, der Bregenzer Festspiele sowie der Theater Erfurt und Luxemburg. Wir sprachen mit Nicola Hümpel. Wieso nennen Sie Ihre Darsteller eigentlich "Navigatoren"? Weil sie ihre Figuren auf dem Wege der Improvisation entwickeln und somit das künstlerische Ergebnis maßgeblich mitbestimmen. Das Stück entsteht aus gemeinsamer Arbeit; eine Fülle von Ideen und einzelnen Szenen entwickelt sich langsam collagenartig zu einem Ganzen. Dafür wird lange gearbeitet - zwölf Wochen. Eine kanonische Messe gibt aber keine dramatische Vorlage, sie hat keine Handlung. Nicht? Na gut. Heutzutage haben die wenigsten von uns noch einen wahrhaftigen Bezug zur Religion. Der Prozess, der uns Demut und Dankbarkeit gegenüber Gott lehrt und aus dem wir geläutert hervorgehen sollen, wäre als Handlung durchaus zu verstehen. Aber Sie haben recht, wer geht da heutzutage schon noch mit. Selbst Rossini hat sich, so unser Eindruck, damit schwergetan und ironisiert sein eigenes Unterfangen nur zu oft - hörbar. Sie haben sich mit dem Kerl intensiv befasst. Er schreibt eine Widmung: "Lieber Gott, ich bin zur Opera Buffa geboren, das weißt Du. Sei also gnädig und gewähre mir das Paradies." Ist es nun Messe oder Buffa? Wir haben es als Werk eines Agnostikers aufgefasst das die großen Existenzfragen stellt und zeigt, dass der Mensch neben seiner "Lebenszeitverwaltung" immer nach etwas Höherem strebt. Wie können wir das Leben ertragen, wenn wir nicht Gott, nicht Tier sind? Auf diese Frage antwortet Nietzsche: "Man muss Philosoph sein." Man spürt in dieser Musik eine ständige Ambivalenz: Mit großer italienischer Leidenschaft und Sehnsucht nach Spiritualität wirft sich Rossini einerseits kompromisslos in sakrale Atmosphären, andererseits spürt man innerhalb der Komposition wie er im nächsten Moment zweifelt, sich wie ein Kind hinter einer Säule versteckt, sich wundert und auch ein bisschen lustig macht. Ist er nicht ein Lustmolch? Wenn er Da Vincis "Abendmahl" als Fressorgie interpretiert und sogar ein Bezug zwischen der Messpraxis und seiner berühmten Koch-Kreation, den Tournedos à la Rossini, hergestellt wird ... Na, auch das. Die Tournedos habe ich sogar einmal für Kollegen selbst zubereitet ... Und? Wie finden Sie die? Eine Riesenperversion! Kalbsfilets angebraten und mit Madeirawein abgelöscht, das ganze mit getrüffelter Gänsestopfleber belegt und dann auch noch mit Cognac flambiert. Für mich sind das zu viele Geschmackserlebnisse gleichzeitig - find' ich ziemlich übertrieben. Was übertragen Sie von dieser durchlittenen Sinnlichkeit auf die Bühne? Gekocht wird nicht. Höchstens in metaphorischem Sinne. Wir haben versucht, Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts innerhalb unserer Truppe zu hinterfragen und für unser Stück zu verwerten - wenigstens in kleinen Segmenten. Eine "Denklandschaft" mit vier Protagonisten ist entstanden: dem Logiker, der psychoanalytisch oder verstandesmäßig sich seine Welt zu erklären versucht, dem Priester, der in all seiner Demut das Leben über die Liebe Gottes begreifen möchte, dem Ganoven, der aus der Religion und dem Kultus in der Gemeinde Profit schlagen will, und einer dämonischen Göttin, die zwischen Engel, Muttergottes und Hure changiert. Diese vier Gestalten leiten uns, indem sie aufeinander treffen, durch den Abend. Aber jetzt verrate ich schon viel zu viel. Der Zuschauer lässt sich also auf ein Experiment ein, Mehrdeutiges assoziativ zusammen zu reimen? Unter der stark visuellen Oberfläche des Spiels öffnen sich komische, poetische Bilder und Gedanken, die der Zuschauer - vor seinem eigenen Erfahrungshorizont - durchwandern kann. Bis hin zu dem lang und sehnsüchtig erwarteten Schlussakkord, mit dem auch Rossini selber seine Probleme hatte. So ganz rund endet es also nicht. Wir arbeiten noch daran. Ihr Stück ist noch gar nicht fertig? Es wird. Meist sind wir mit der Struktur des Abends eher zu früh fertig, damit die Akteure die Chance haben, wieder frei zu werden und auf der Basis des Erarbeiteten noch einmal zu improvisieren und das eine oder andere Detail zu verändern. Rossini instrumentiert nur mit zwei Klavieren und Harmonium, eine schwebende Musik eigentlich. Wir haben uns für die ursprüngliche Fassung entschieden, da Rossini selbst diese in Kennerkreisen gern als Wohnzimmer-Messe bezeichnete Fassung bevorzugte. Erst später hat er sie für eine größere Chor- und Orchesterfassung umgeschrieben und instrumentiert, damit dies nach seinem Tod kein anderer tun würde. Die Intimität, die sich durch die Musikerbesetzung herstellt, hat mich an dem Projekt sehr gereizt. Und müssen die Tänzer das auch: schweben? Also, Yui Kawaguchi schwebt grundsätzlich, die kann gar nicht anders. Aber sonst ist der Begriff Choreografie für meine Arbeit eher unangebracht, ich komme ja nicht vom Tanz. Sondern aus der bildenden Kunst. Gibt die Musik die Bewegungsabläufe vor? Es kommt vor, dass wir den Rhythmus bedienen, aber auch, dass wir uns davon lösen. Wohin führen uns die Navigatoren? Zum Paradies? Um Gottes Willen!
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