Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens – Gedanken in 5 Gängen zur Uraufführung des Staged Concert

Vorweg: Amuse-Esprit, mit freundlicher Unterstützung von Wikipedia


Navigation – von lat. navigare (Führen eines Schiffes), sanskrit navgathi – ist die „Steuermannskunst“ zu Wasser, zu Land und in der Luft …. Dem Steuern gehen zwei geometrische Aufgaben voraus: das Feststellen der momentanen Position (…) und das Ermitteln der besten Route zum Zielpunkt … Navigation im allgemeinsten Sinn schließt noch weitere Aspekte ein, beispielsweise den Gleichgewichtssinn und die Raumvorstellung. Sie kann dann definiert werden als das Sich-Zurechtfinden in einem topografischen Raum, um einen gewünschten Ort zu erreichen.


Mit Tanz, Performance, Schauspiel und Musik haben Nico & The Navigators die „Steuermannskunst“ im Element der Bühne etabliert, als das Sich-Zurechtfinden im offenen Raum menschlichen Daseins.


Vorspeise: Zurück zu den Wurzeln, eigene Ernte


Das erste Mal habe ich im Juni 2000 über Nico & The Navigators geschrieben. Die Company präsentierte damals in den Sophiensaelen „Eggs on Earth“:

Nicola Hümpel hat diese kleine Compagnie 1998 am Bauhaus in Dessau gegründet, inzwischen ist sie in Berlin ansässig, „Ich war auch schon mal in Amerika“ hieß das erste, noch in Dessau erarbeitete Stück, danach kam  „Lucky Days, Fremder“, und jetzt also „Eggs on Earth“. Und mit dieser, ihrer erst dritten Produktion überschreitet die Truppe endgültig die Grenze vom Geheim-Tipp zur Szene-Größe … Wenn „Nico & The Navigators“ so weitermachen, dürfte ihnen auf diesem Weg nichts entgegenstehen.


Im letzten Jahr, also 2018, feierte die Company ihr 20-jähriges Bestehen. Ein Wunder, im Angesicht der ebenso enormen wie nachhaltigen Finanzierungsprobleme, mit denen die Freie Gruppe – ungeachtet ihrer künstlerischen Erfolge – bis aufs Blut zu kämpfen hat. Immer und immer und immer wieder.


In der Jubiläumsproduktion „Die Zukunft von gestern – Menschenbilder 2.0“ verglichen die „Navigatoren“ ihre Träumen und Ängste von damals mit denen von heute und ihre Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft. Das Schwelgen in Erinnerung wurde zur Reflexion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.


Auf einem sehr schmalen Grat zwischen Pathos und Unsinn, Melancholie und Leichtigkeit, Instinkt und Intellekt haben Nicola Hümpel, ihr kongenialer Bühnen- und Kostümbildner und Lebensgefährte Oliver Proske und ihre Mitspieler, die Navigators, stets existenzielle Fragen spielerisch erforscht, dabei aus dem Fundus der eigenen Erfahrungen geschöpft und aus den von Nico „angeleiteten Improvisationen“ die Stücke entwickelt. Sie nennen sie Menschenbilder. Oder Denklandschaften.


Liebe, Freundschaft, Familie. Entscheidungen, Irrwege, Ängste. Glück, Unglück. Sehnsucht, Fremdsein. Und jetzt: der Tod. Und das Leben davor. Eros und Thanatos. Nicht mehr und nicht weniger.


Hauptgang: Das neue Stück, Selbstverkostung


Schwankende Gestalten nähern sich von den Rändern her. Lemurenartige schwarze Schatten. Geister ohne Korpus, nur Extremitäten: Hände, Füße. Aber sie haben eine Stimme, Und sie singen: Matthias Claudius’ „Abendlied“, vertont von Johann Abraham Schulz (1747-1800)


Wollst endlich sonder Grämen

Aus dieser Welt uns nehmen

Durch einen sanften Tod!

Und, wenn du uns genommen,

Laß uns im Himmel kommen,

Du unser Herr und unser Gott!


Nein, Moment mal: der Himmel kann warten. Es muss ja erst noch getanzt und gesungen werden. Kein Leben ohne Tod. Aber auch kein Tod ohne Leben. Kein Verlust ohne Gewinn. Vor den Todestänzen kommt der Lebensrausch. Aber feiert man das Leben erst, wenn der Tod einem schon auf der Pelle sitzt? „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“, weil: wer weiß schon, wo sie ist, die Mitte, wenn man das Ende nicht kennt?


Ist der Tod das Ende? Ist er ein Schreckgespenst? Oder ein Erlöser? Und muss ich auf Opas Beerdigung weinen, obwohl ich einfach nur hungrig bin? (fragt Matan Porat, musikalischer Leiter des Abends)


Schier unerschöpflich ist das Reservoir an Gedanken und Gefühlen, persönlichen Erfahrungen, philosophischen Tief- und künstlerischen bis humoristischen Ausdrücklichkeiten. Ich war auch grade wieder auf einer Beerdigung mit anschließendem Leichenschmaus. Aber wie kann man das fassen in einem Theaterabend, der einen Anfang haben muss und auch ein Ende? Und eine überschaubare Dauer. Zwei Stunden. Eine Pause. Getränke kann man dafür vorbestellen. Ich kann es nicht anders sagen: aber diese Navigators haben wieder einmal ihre „Steuermannskunst“ bewiesen. Was so traumwandlerisch sicher erscheint, ist harte, kreative Arbeit. Im Programmheft heißt es: “Suchen, bis es knirscht.“


Zutaten und Beilagen, New Remixes


Der Theaterraum hat Wände, das Spiel kennt keine Grenzen. Nicht in der Zeit. Nicht im Raum. Nicht geographisch. Nicht kulturell. Nicht national. Ethnisch oder religiös sowieso nicht. Die Navigators dieser Produktion kommen von hier, aus Israel, USA, Italien, Rußland, Japan, Indonesien/Niederlande. Sie sprechen verschiedene Körper-/Sprachen und sind ohne Weiteres in der Lage, ein Ensemble zu bilden. Sich zu verständigen, zu befruchten, zu bereichern.


Das Bewegungs-Vokabular scheint schier unerschöpflich, inklusive Derwisch-Ekstase und computerspiel-figürlicher Ruckeligkeit. Mit dem neuen Navigator Ruben Reniers hat die expressive Yui Kawaguchi einen adäquaten Partner gefunden. 400 Jahre umfaßt das musikalische Spektrum dieses „staged concert“. Der Respekt vor dem Original schließt zeitgenössische Aneignung nicht aus. Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht …. Die ältesten Stücke stammen aus einer Zeit, als die meisten Menschen, noch glaubten, die Sonne drehe sich um die Erde und nicht umgekehrt. Von Monteverdi, Bach, Händel, Beethoven, Mozart, Rameau, Schubert (kein Nico-Stück ohne Schubert!!!), sogar Ligeti bis zu Hank Williams, Paul Simon und Rufus Wainwright. Und Leonard Cohen: Sein „Dance Me to The End Of Love“ singen Julia von Landsberg und Ted Schmitz im Duett, derart mit balkaneskem Drive angetriebenen Matan Porat ( Klavier), Elfa Rún Kristindottír (Violine) und Wilfried Holzenkamp (Kontrabass & E-Bass), daß er selbst wahrscheinlich sein Werk kaum wiedererkennen würde.


Später zelebriert Julia von Landsberg, die Sopranistin, noch in entsprechender Mundart und schrill-grotesker Performance die Legende von der austriakische Affinität zur Morbidität mit dem legendär dunkel-grauen Song von Ludwig Hirsch: „Komm, großer schwarzer Vogel“, der seinerzeit nach 22 Uhr nicht mehr im österreichischen Rundfunk gespielt wurde, aus Angst, die Hörer könnten zum Selbstmord inspiriert werden.


Und dann fliegen wir rauf, mitten in Himmel rein,

in a neue Zeit, in a neue Welt.

Und ich werd‘ singen, ich werd‘ lachen,

ich werd‘ „das gibt’s net“, schrei’n,…


Außerordentlich tröstlich für die Zuschauer entwickelt indes Annedore Kleist mit ihrer bodenständigen Diktion die Beweiskette, dass keiner von uns Zuschauern, stürbe er auch während der Aufführung, auf der Stelle entsorgt würde, sondern bis zum Schlussapplaus dabei bleiben dürfte.


Welche Farbe hat der Tod? Schwarz? Weiß? Trägt er Kapuze? Hosen? Röcke? Alles. Mal so. Mal so. Von schwarzen Tierfellen bis weißen Teddy-Mänteln, oder nur Arm-Stulpen zum Engels-Gewand. Alles dabei.


Es wird auch gesprochen. Annedore Kleist, die Schauspielerin unter den Navigators, zitiert Christoph Schlingensief: „Am Liebsten würde ich einfach allen Menschen zurufen, wie toll es ist, auf der Erde zu sein.“ Oder: „dass sich der Hass nicht lohnt.“


Nachspeise: Zweierlei vonder Total Eclipse, höllisch heiß serviert


1743: Arie des Samson. Musik: Georg Friedrich Händel – Text: John Milton

1981: Arie des Klaus Nomi. Songwriter: Kristian Hoffman.

Ted Schmitz wächst – beides ineinander singend – noch einmal über sich hinaus.

Phillipp Kullen inszeniert auf seinem Schlagzeug ein letztes wildes Aufbäumen.

Dann noch ein anhaltender Geigenton von Elfa Rún Kristinsdóttir, wie das Exitus-Signal einer Krankenhaus-Maschinerie.


Hello Darkness. Just Silence.

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