Philippe Boesmans’ Schnitzler-Oper „Reigen“ an der Staatsoper Stuttgart ist ein Volltreffer

Stürmischen Beifall für alle Mitwirkenden gab es nach der Premiere von Philippe Boesmans’ „Reigen“ an der Stuttgarter Staatsoper. Knapp einen Monat vor dem 80. Geburtstag des belgischen Komponisten ist das Musiktheaterwerk nach Arthur Schnitzlers Skandalstück nun erstmals in Stuttgart zu erleben. Die musikalische Leitung hat – wie 1993 bei der Uraufführung in Brüssel – Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling. Die Stuttgarter Inszenierung von Nicola Hümpel setzt auf eine raffinierte Verzahnung von Bühnenhandlung, Live-Video (Judith Konnerth) und ergänzenden Filmsequenzen, die Hümpel und Konnerth mit den Darstellern Julia von Landsberg und Michel Shapira von der Berliner Musiktheaterkompanie Nico and the Navigators vorproduziert haben. Im Verbund mit Oliver Proskes faszinierenden, subtil ausgeklügelten Räumen und Teresa Verghos schrägen Kostümen ergibt sich eine spektakuläre, ständig wechselnde Optik. Zu Beginn kommen alle zehn Protagonisten dieser Partnertausch-Parabel stumm zur Szene herein, stellen sich in einer Reihe auf, beschnuppern und begrapschen sich und offenbaren dabei jeweils persönliche Eigenheiten und Verklemmtheiten. Noch sind sie für das Publikum unbeschriebene Blätter. Szene für Szene lernen wir dann in wechselnden Mann-Frau-Kombinationen einen nach der anderen kennen. In der Folgesituation ist jeweils eine Gestalt bereits vertraut, die andere noch nicht. Und jede neue Konfrontation enthüllt auch bei den schon eingeführten Persönlichkeiten weitere, manchmal entlarvende Seiten. Der Schweizer Regisseur Luc Bondy hat die Dialoge für Boesmans Oper mit feinem Gespür für Erfordernisse einer Vertonung und viel Wortwitz aus Schnitzlers Drama destilliert. Selten begegnet man einem so intelligenten Libretto. Opulente Musik Da wird geschmeichelt, geprotzt oder gelogen, dass sich die Balken biegen. Banalitäten treffen auf haltloses Räsonieren, verführerische Andeutungen auf Selbstmitleid, Sexgier auf Sehnsucht nach Liebe. Meist weicht man Fragen aus, redet aneinander vorbei, lebt in verschiedenen Welten und ist mehr an sich selbst als am Gegenüber interessiert. Kleine Änderungen einzelner Worte verdrehen den Sinn, soziales Gefälle tritt zutage. Doch bei aller Demaskierung der Charaktere wird niemand der Lächerlichkeit preisgegeben. Für die Musik bietet das viel Spielraum. Boesman hat ihn genutzt. Sowohl im vokalen als auch im orchestralen Bereich gibt er dem Affen Zucker. Aus dem Graben tönt es opulent, farbenreich und rhythmisch griffig, auch humorvoll oder melancholisch. Die glänzend instrumentierte Partitur leuchtet differenziert ins Seelenleben der Figuren. Sie erlaubt sich sublime Adaptionen tonaler Idiome bis hin zu Jahrmarktklängen. Der Gesang setzt auf süffige Kantilenen und beste Textverständlichkeit. Cambreling erweist sich als feinfühliger Anwalt dieser prallen, wirkungsmächtigen, eminent theatertauglichen Klangräume. Lauryna Bendziunaite (Dirne), Daniel Kluge (Soldat), Stine Marie Fischer (Stubenmädchen), Sebastian Kohlhepp (junger Herr) und Kora Pavelic (süßes Mädel) singen und spielen großartig. Besonders beeindruckend sind Rebecca von Lipinsky (junge Frau), Shigeo Ishino (Gatte), und Matthias Klink (Dichter). Melanie Diener ist als hysterisch-eitle Sängerin eine Wucht ebenso wie André Morsch als neurotischer Graf. Insgesamt ist diese Produktion ein Volltreffer in jeder Beziehung. In Hümpels einfallsreicher Inszenierung begegnet Sigmund Freuds Wien der Cyber-Gegenwart. Kunstvoll konstruierte Engführungen von Szene und Video schaffen vielfache Perspektiven. Personenführung und Mimik sind minutiös einstudiert. Als Pendant zum Reigen der Paarungen dient die Drehbühne mit vorüberfahrenden Zwischenwänden. Auf der Kippe zwischen existenziellem Ernst, grotesker Verfremdung und feiner Komik bleibt alles eng an Boesmans wundervoller Musik.

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