Potente Oper: „Reigen“ von Philippe Boesmans

Sex auf der Opernbühne? Da klemmt's oft bei diesen Menschen. Aber die Musik von Philippe Boesmans ist potent. Der "Reigen" umjubelt in Stuttgart. Die Dirne hat Sex mit dem Soldaten. Und der mit dem Stubenmädchen Mizzi, das es danach mit dem jungen Herrn treibt, der sich dann mit der jungen Frau im Hotel verabredet, die später im Ehebett mit ihrem Gatten Gottfried liegt. Der Gatte trifft auf das süße Mädel, dieses auf den gehemmten Dichter, jener auf die Schauspielerin. Dann hat die Schauspielerin auch ein Rendezvous mit dem Grafen - und der volltrunken mit der Dirne. Der "Reigen" schließt sich. Arthur Schnitzler hat das berühmte Stück noch im donaumonarchischen Wien geschrieben, Ende des 19. Jahrhunderts, es geht um Verführung und Verletzlichkeit, um Verlangen und Überdruss, um Sehnsucht und Enttäuschung, aber eher um die biologische "Mechanik" und weniger um eine erotische Begegnung, eher um Frust als um Liebe und glückvolle Befriedigung. Und das alles die sozialen Schichten rauf und runter. Das ist der Befund: Es kommt zum Sex, aber dann schnell zur Flucht. Dieser "Reigen" galt lange als skandalös und unaufführbar, kam dann 1920 am Kleinen Schauspielhaus Berlin der Gertrud Eysoldt auf die Bühne, es folgte ein Strafprozess, und der entnervte Schnitzler untersagte von 1922 an urheberrechtlich alle weiteren Aufführungen, was bis 1982 galt. So - aber jetzt stellen wir uns mal vor, der "Reigen" wäre in den 20er Jahren ein richtiger Dauerbrenner geworden und ein davon faszinierter Komponist Alban Berg hätte nicht nur Büchners "Wozzeck" verkomponiert, sondern frech und mit Humor auch eine komische Schnitzler-Oper geschaffen, also zumindest eine tragikomische: mit der Klangsprache einer atonal-melodischen Wiener Schule, aber auch mit ironischen Zitaten aus der halben Musikgeschichte und einer ordentlichen Portion expressionistischem Zeitgeist der Marke Franz Schreker. Nein, Alban Berg tat das nicht, auch keiner seiner Kollegen aus jener Zeit. Aber die Oper gibt's trotzdem, nur wurde sie dergestalt vom Belgier Philippe Boesmans komponiert auf ein Libretto Luc Bondys und 1993 in Brüssel uraufgeführt. Jetzt ist dieser "Reigen" endlich im Stuttgarter Opernhaus zu erleben, zu entdecken. Ein verschleppter Klassiker der Moderne gewissermaßen. Boesmans ist ein begnadeter Theatermusiker, er kann illustrieren, er ist lyrisch und er hat Witz: Der nervöse junge Herr verflucht nicht das Weib, sondern im selben "Salome"-Tonfall des Herodes die ihn umsummenden Insekten: "Man töte diese Mücke!" Den lange ersehnten Erfolg des erektionsgestörten jungen Herrn feiert das Orchester dann mit dem Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" und barock triumphalen Trompeten. Das ist ziemlich viel Oper: überragend gespielt vom Staatsorchester unter der Leitung Sylvain Cambrelings. Der war schon der Uraufführungsdirigent, spielte das Werk auch in seiner Zeit als Frankfurter Opernchef und kennt jede Nuance, jede Stimmungslage, jeden Effekt. Eine sehr klangplastische, pointierte Premiere war das. Großer Applaus - auch für den sich verbeugenden, sehr gerührten 79-jährigen Komponisten Boesmans. Bestens aufgelegt agierte das Stuttgarter Ensemble: darunter Rebecca von Lipinski als die junge Frau, Kora Pavelic als herrlich glupschäugig-naives süßes Mädel und Matthias Klink als grotesk triebgesteuerter Dichter. Und Melanie Diener gibt emphatisch die Primadonna - in der Oper ist die Schauspielerin eine Sängerin, die zumindest lustvoll Koloraturen probt. Das Grimassenspiel der Akteure sorgt für Lacher. Der Zuschauer darf dank virtuoser Video-Kunst nah dabei sein in dieser Koproduktion der Oper Stuttgart mit "Nico and the Navigators" aus Berlin. Regisseurin Nicola Hümpel und ihr Team zeigen den "Reigen" stylish designed und auch ein bisschen trashig aufgepeppt im Handy-Zeitalter. Keine Schocker-Inszenierung, kein Opern-Porno, sondern ein ernstes Lust-Spiel. Und nach jeder Szene muss eine Figur den Schauplatz verlassen: ein letzter Schnappschuss, dann wischt eine Hand das Bild smartphonemäßig weg. Ein Tänzerpaar wiederum, Mann und Frau als romantisches Gegenbild wirklicher erotischer Zweisamkeit, wird ebenso per Video eingeblendet: immer dann, wenn sich die realen Akteure in ihrer Unfähigkeit zu lieben verheddern. Gerne auch auf tückischem Mobiliar, auf schaukelnden Sofa-Wippen oder dem sich zerlegenden Ehebett. Die Einrichtung fährt auf der Drehbühne durch die Wände diverser Räume - ein ganz eigener Reigen. Alles hohl, surreal. Wie die Liebesrituale.

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