Rausch aus Bildern und Begierden – Quartett zum Quadrat
Heiner Müllers „Quartett“ wird im Radialsystem zu einem Bühnenorkan zwischen Sex, Gewalt mit derbem Text.
Zwischen den vielen Tänzen und Texten, dem Schreien und Flüstern, den Gongs, Trommeln und Geigen – da geht eine kleine Szene im Hintergrund fast unter: Wie ein Mann (Martin Buczko) und eine Frau (Yui Kawaguchi) zeitgleich ein Treppenhaus betreten, eine Etage nach unten beziehungsweise nach oben laufen, aber einander nicht begegnen. Sie „laufen“ auf der Stelle, nur der virtuelle Raum dreht sich in 3D um sie herum. Der Abstand zwischen den beiden bleibt die ganze Zeit gleich, keine Berührung.
Solche Momente sind die Stärken in dieser überbordend bild- und tonstarken Inszenierung von Heiner Müllers „Quartett“. Die 20 Jahre alte Truppe „Nico and the Navigators“ hat das Stück zu „Quartett zum Quadrat“ erweitert. Das Premierenpublikum am Donnerstag im ausverkauften Radialsystem feierte das Ensemble – und damit auch die Kreativitäts-Explosion, die sie fast zweieinhalb Stunden lang überrollte.
In einer kurzen Einführung zum Stück – die anders als sein Text im Programmheft sehr zugänglich gerät – weist Dramaturg Sergio Morabito darauf hin, dass dem Publikum ein wilder Ritt bevorstehe, wörtlich: „eine äußerst anregende Erfahrung“. Morabito berichtet von Proben, in denen einige „zum Äußersten gegangen sind“ und in denen viel gelacht wurde. „Ist es eine Klamotte?“, fragt er. Und: „Steckt etwas von ‚Charlies Tante’ im Stück?“ Die Antwort: Es spricht einiges dafür.
Heiner Müllers „Quartett“ hatte 1982 in Bochum Premiere, genau 200 Jahre nach dem Erscheinen der Vorlage: „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos. Es heißt, Müller habe die 500 Seiten des Originals nicht zu Ende gelesen und sein Stück basiere daher nur lose auf dem berühmten Briefroman. In „Quartett zum Quadrat“ versuchen die Marquise de Merteuil (Annedore Kleist) und ihr Ex-Lover Valmont (Martin Clausen) einander vor allem durch Boshaftigkeit zu übertreffen.
Andere Inszenierungen drucken schon wegen Müllers Text Triggerwarnungen und Altersempfehlungen in ihre Programmhefte – schließlich werden Selbstmord, Vergewaltigung und Fäkal-Sex durchaus anschaulich auf die Bühne gebracht. In „Quartett zum Quadrat“ werden die derben Texte präzise und in aller Rohheit präsentiert. Er: „Man sieht die Parade der jungen Ärsche, die uns täglich mit unserer Vergänglichkeit konfrontiert.“ Sie: „Sie wissen gut, dass ein Mann ein Mann zu wenig ist für eine Frau.“
Annedore Kleist und Martin Clausen sind die Stars dieses Abends, und sie wechseln Geschlechter, Kostüme und Stimmungen schneller als jede Drag-Queen. Selten hat jemand anzüglicher einen Lippenstift in seine Hülle gestopft wie Kleist – und Clausen spielt nicht das sterbende Mädchen auf der Bühne, er ist das sterbende Mädchen. „Quartett zum Quadrat“ ist eine Materialschlacht mit allen Mitteln des modernen Theaters: Schauspiel, Video, Tanz, Musik und einem Text, der angesichts von Epstein-Files und TikTok-Suiziden nicht aktueller sein könnte.
Das Radialsystem traut und mutet dem Publikum einiges zu – etwa einen clever montierten Maxi-Spiegel auf der Bühne, um den alle herumtanzen und der eine gefühlt fünfte Ebene eröffnet. Ist es zu viel? Darum kreisten in der Schlange am Ausgang die meisten Gespräche. Manche fühlten sich erschlagen, doch die jüngeren im Publikum (eindeutig die Minderheit bei der Premiere) fühlten sich abgeholt. Streicher, die auf der Bühne um Schauspieler tanzen? Mehr davon! Kurz vor der Pause schien dieser Streit auf der Bühne bereits vorweggenommen. Er (Sie): „Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, eine Frau zu sein.“ Sie (Er): „Ich glaube, ich werde es nie.“
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