Scheideweg oder Spagat

Nico & the Navigators zeigen Neues in den Sophiensaelen Schritte, eine Frau, ein Stuhl. Sie stellt sich dahinter, blickt uns unverwandt an. Die Hände legt sie auf der Rückenlehne des Stuhls ab. Es ist, als zeige sie sich die Frau selbst vor. Sie dreht sich um, verschwindet im Dunkel, erscheint auf halber Höhe neu, mit dem Rücken zu uns. Ihre Aussicht ist ein Rundhorizont, fest, unüberwindbar. Die Farben jedoch, die sich im Verlauf des Abends darauf spiegeln werden, lassen die Menschen davor stets in anderem Licht erscheinen. Siebenfach vollzieht sich dieser Auftritt, immer ähnlich, nie identisch, dann sind die drei Frauen und vier Männer von "Nico and the Navigators" vollzählig angetreten zur Versuchsanordnung "Kain, Wenn und Aber". Das Thema heißt: Entscheidungen. Sieben Stück haben wir zu diesem Zeitpunkt schon gesehen. Eine Frau klemmt einen Mann an sich fest. Der wehrt sich, macht sich von ihr los, kann sich nicht halten und fällt mit Wucht auf eine andere, die zufällig in der Gegend herumliegt. Nun klebt er an der nächsten. Einer frisiert einen anderen und verzweifelt, kann er doch nicht herausfinden, auf welche Seite der Scheitel gehört. "Hab doch mal ne Vision!", brüllt eine, tritt ihrem bleich-erstarrten Nachbarn in den Hintern und fällt in Ohnmacht. Zwei basteln sich Papierschiffchen, nehmen sie zwischen die Lippen wie Entenschnäbel und küssen sich. "Meine Zwickmühle steht auf der Kippe", sagt jemand folgenlos ins Leere. Ein jeder läuft nach Lageskizze, nach Stadtplan, die Nase übers Papier gehängt, als handle es sich um eine Gebrauchsanleitung für sich selbst. Man kann zwar in mehrere Richtungen gleichzeitig gehen, doch endet jede noch so emsig angestrengte Grätsche spätestens im Spagat. Nach dem Besuch der Aufführung möchte man den Lebenslauf in Scheideweg umbenennen. Der Abend ist ein Ergebnis von Improvisation. Er lebt von streng geführter siebenfacher Fantasie, von Wortarmut und Körpervielfalt. Die Szenen - feinfühlig mit diversen Musiken unterlegt - flammen auf und ebben ab, von Regisseurin Nicola Hümpel mit sicherer Hand sortiert und arrangiert. So konkret wie nötig, so offen wie möglich sind die Geschichten eine charmante, fast zurückhaltende Einladung zum Hineindenken und Mitfühlen. Es geschieht stets mehr, als man zu sehen schafft, doch nie so viel, dass man den Anschluss verliert. Stellt man die Wahrnehmung auf Totale, so entblättert sich vor Oliver Proskes Kulisse zwischen Silo-Innenansicht und Zirkusmanege eine anmutige Welt. In kühl-hellen, korrekten Kostümen arbeiten sich die Spieler in die Nähe von Clowns: Fernab von Ironie verfolgen sie mit Ernst und mit Mut ihre Ziele. Was entsteht, ist eine melancholische Komik, samt notwendigem Lachen. Gegen Ende sitzen sie friedlich im Zirkusrund, sprechen sich mit dem Vornamen an und stellen einander Fragen: Hast du alle Kräfte in dir ausgeschöpft? Glaubst Du, dass dir noch viele Türen offen stehen? Hast du alle deine Chancen genutzt? Die Antworten lassen auf sich warten. Zwischen Saal und Bühne ist hundertfach gefülltes Schweigen zu hören. Die Antworten kommen. Sie sind kurz. Und es gibt nur zwei: Ja oder Nein. Sie klingen trotzdem wie Romane.

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