Schnitzlers „Reigen“ als Musiktheater

Radio Beitrag - höre Link Seinerzeit war Arthur Schnitzlers "Reigen" skandalös und wurde unter Verschluss gehalten. In den 90er-Jahren machte Philipp Boesmans aus dem Stoff eine Oper. Die Inszenierung in Stuttgart hievt ihn nun ins Hier und Jetzt - mit Witz und erstaunlich tonal. Zehn Paare, zehn Mal Sex? Zu sehen gibt es auf der Bühne davon nichts. Öffentlich verhandelt wird, was die wechselnden Geschlechtspartner davor und danach miteinander zu bereden haben. Als Arthur Schnitzlers "Reigen" 1920 uraufgeführt wurde, sorgte das Stück dennoch für Aufregung. Und zwar so große, dass der "Reigen" fortan unter Verschluss gehalten wurde. Erst 1982 durfte er wieder aufgeführt werden. Elf Jahre später hat der belgische Komponist Philipp Boesmans eine Oper daraus gemacht, uraufgeführt in Brüssel. Der Dirigent der Uraufführung, Sylvain Cambreling, ist mittlerweile Generalmusikdirektor in Stuttgart. Dort stand er gestern am Pult bei einer Neuinszenierung von Boesmans' "Reigen". Der Komponist wird nächste Woche 80 Jahre alt, inszeniert wurde seine Oper von einer 46-Jährigen, der Berlinerin Nicola Hümpel. Und sie hat das Stück tatsächlich in die heutige Zeit gerettet. Das "Rein-Raus-Spiel" auch als Bühnenbild Es scheint so, als habe Schnitzlers "Reigen" nur darauf gewartet, in Zeiten von Dating Apps und Cyber Sex auf die Bühne gebracht zu werden. Regisseurin Nicola Hümpel und ihr Team "Nico and the Navigators" haben das Stück jedenfalls ganz im Hier und Jetzt verortet. Immer mal wieder zückt jemand ein Handy, macht ein Selfie oder tippt etwas hinein. Nach der Begegnung gibt es ein Foto, das auf die Bühnenrückwand projiziert wird und dann wie bei den einschlägigen Apps üblich, zur Seite gewischt wird. Einer bleibt, der andere geht. Bahn frei für den nächsten Kopulationspartner. Reihum versuchen sie es miteinander: Dirne und Soldat, Soldat und Stubenmädchen, Stubenmädchen und junger Herr und so weiter. Die Bezeichnungen stammen noch von Schnitzler, die Figuren sind von heute. Die Bühne ist ein kalter Raum im Raum: Eine niedrige steingraue Decke bleibt immer gleich, für jede Begegnung werden von rechts zwei neue Wände hereingefahren, von links kommen die Sitz- oder Liegemöbel durch ein Loch in der Wand. Bühnenbildner Oliver Proske hat das alte Rein-Raus-Spiel fantasievoll auf die Bühne übertragen. Die Gleichung "neues Bett, neues Glück" geht dabei allerdings nie auf. Da, wo Arthur Schnitzler nur Gedankenstriche schreibt und der Fantasie des Lesers oder der Regie den Rest überlässt lässt, komponiert Philipp Boesmans mal eine gläsern zerbrechliche, mal eine harte mechanistische Musik des Zusammenseins. Das klingt überraschend tonal, in einer Mischung aus Alban Berg und französischem Impressionismus breitet Dirigent Sylvain Cambreling mit dem Stuttgarter Orchester eine große Farbpalette aus. Den Eindruck, dass sich auch die Komposition irgendwann im Kreis dreht und gut und gern eine halbe Stunde hätte gestrafft werden können, kann er aber nicht vermeiden. Insgesamt unterhaltsam und mit durchweg guten Sängern Weil die Regie das Thema eher auf die leichte Schulter nimmt, bleibt es ein insgesamt unterhaltsamer Abend. Sex zu sehen gibt es nicht, eher schon Dokumente seines Scheiterns. Und das ist oftmals ziemlich witzig. Der Soldat spritzt irgendeine Flüssigkeit über die Bühne bevor es überhaupt richtig zur Berührung kommt. Das süße Mädel beißt so herzhaft in eine Wurst, dass ihrem Gegenüber Angst und Bange wird. Junge Frau und junger Mann finden in einer viel zu schmalen Schaumstofflandschaft keine rechte Position. Per Live-Video sind die Gesichter in Großaufnahmen zu sehen, was in diesem Fall tatsächlich mal gut passt, weil sich die durchweg sehr guten Sänger auch als vorzügliche Schauspieler entpuppen. So ergeben sich Blickdramaturgien, die von erhabenem Pathos bis zu irritiertem Ekel reichen und selten zueinander passen. Allein ein tanzendes Paar, das als Film zwischendurch immer wieder zu sehen ist, bleibt als Utopie im Hintergrund, glücklich, gelöst, mit der Ahnung, dass körperliche Nähe und Liebe tatsächlich in Einklang zu bringen wären. Eine Vorstellung, die verblasst, aber zumindest nicht ganz so schnell weggewischt werden kann.

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