Sind wir nun König Lear oder nur wir selbst?

Was waren das für Zeiten, die 90er in Berlin!, ruft Amelie Deuflhard begeistert ins Foyer der Sophiensäle. Die ehemalige Chefin sitzt hoch oben auf einem der verwunschen futuristischen Bauklötze, die der Bühnenbildner Oliver Proske seiner Kompanie Nico and the Navigators seit zwanzig Jahren in allen möglichen Varianten zum Spielen gebastelt hat. Und ja, ein bisschen macht das pastellfarbene Multiding auch jetzt das Fantastische jener Zeit noch einmal plastisch. „Die Stadt war offen, neugierig, wild,“ schwärmt Deuflhard weiter, „überall wurde neu gegründet!“ und fast meinte man es greifen zu können, wie sie Berlin als „völlig andere Stadt“ beschrieb. Das Performancetheater war blutjung. Kein Wunder, dass die zerknautschten Gestalten der ersten Navigators Martin Clausen und Patric Schott damals einschlugen wie Kometen. Sie tanzten mit Staubsaugern Pas de deux, verbanden Körper und Objekte in innige Bruchpilotenehen und aus traumwandlerischen Slapsticks wurde eine ganze Menschheitsbilderwelt. Tati, Bach und Cindy Lauper Lange her, denkt man nun, schaut man dem neuen Stück „Die Zukunft von gestern“ zu, mit dem die Regisseurin Nicola Hümpel den 20. Gründungstag ihrer Nico-Truppe feiert. Denn das melancholisch dahin plätschernde Tanz-Musik-Erinnerungspotpourri vor Videowand kreist nur um seinen eigene malerische Nettigkeit. Ein Tisch wird trommelnd zum Schicksalskörper, eine Tasche zur Frauenmanie. Die Navigators haben es sich in ihrer gepflegten Kauzigkeit gemütlich gemacht. Dennoch bleiben sie mit ihrer professionellen Interdisziplinarität, ihrer Arbeit am Gesamtkunstwerk zwischen Jaques Tati, Bach, Tiergarten und Cindy Lauper etwas sehr Besonderes. Und sei es nur, weil ihnen der übliche Theorieanschluss der Peformancekultur abgeht. Emotionale, berührende Momente Etwas, das man ihren älteren Stiefgeschwistern She She Pop nicht vorwerfen kann, die sich bereits fünf Jahre früher in der Theorieschmiede des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft die Köpfe heißredeten, zum „Kollektiv!“ zusammenfanden und nun zeitgleich im HAU ihren 25. Geburtstag feiern. Anders als die Navigators ist She She Pop ein Theorietheatertier wie es im Buch der Postdramatik steht. Und doch schaffen sie in ihren extra spröden, diskursiven Spielanordnungen emotionale, ja berührende Momente, die unmittelbar verstehen lassen, wie man durch Kommunikation zu einem besseren Menschen werden kann. Mag naiv klingen, ist aber besonders schwer und wurde in der feierlichen Wiederaufnahme ihres Erfolgsstücks „Testament“ gerade wieder verblüffend deutlich. Generationen- und Kunststreit „Das ist jetzt gar nicht mehr lustig, was hier passiert!“, empört sich darin ein älterer Herr. „So könnt ihr nicht mit uns umgehen!“ Alle Altersschwächen, all das durch und durch Private an die Öffentlichkeit zu zerren – „das ist doch kein Theater!“ Theo heißt er und geht auf die Achtzig zu, neben ihm thronen zwei weitere Herren in Sesseln und nicken. Die drei sind die Väter der Performerinnen Ilia Papatheodoro, Mieke Matzke und Fanni Halmburger, die in ihren Vätern den „König Lear“ suchen. Soeben haben alle sechs noch den Shakespeare-Text von der Wandprojektion abgelesen, doch alle paar Verse lang griffen die gestrengen Töchter ein und versuchten, durch gnadenlose Fragen und Kommentare ihre Väter aus der Königsrolle in die Erfahrungswelt des eigenen Alterns zu schubsen. Theorietheatertier She She Pop Bis den Alten die Kragen platzen: was sind wir denn hier, „Lear“ oder nur wir selbst? Eine Frage, die mitten ins schillernde Herz des She-She-Pop-Theaters führt. Es ist daher eine ganz wunderbare Idee, neben einer Buchpräsentation und einer „Gala“ am kommenden Samstag das Vierteljahrhundert mit der Wiederaufführung des emblematischen Werks zu feiern. Acht Jahre ist „Testament“ nun alt und hat von seiner einstigen Frische nichts eingebüßt: ein spielerischer Essay über Wert und Wandlung des Lebens und des Theaters selbst. Denn der Generationen- und Kunststreit, den sie darin austragen, ist so echt wie inszeniert. Er ist Ausschnitt der zähen, ungelösten Auseinandersetzung zwischen den Performerinnen und ihren Vätern, die sie während der Proben aufschrieben und nun zu einem weiteren Thema des Abends machen. Ein Macht- und Selbstermächtigungsspiel Und während sie darüber streiten, was Zumutung, was Herausforderung ist, was „Spielen“, was „Darbieten“, vollziehen die Väter ganz nebenbei beides: Sie suchen, was an Lear in ihnen steckt und „spielen“, was von ihnen im “Lear“ sein könnte. Treten She She Pop auf die Bühne, ist erst einmal nichts mehr Bühne, und doch alles. Die geliebte Distanz zwischen Zuschauern und Performern ist ausgeknipst und die Freiheit der Kunst durch den direkten Kontakt mit der Nicht-Kunst aus den Angeln gehoben. Ein Macht- und Selbstermächtigungsspiel also, das zwischen literarischer, persönlicher und politischer Ebene hin und her springt und die Prädikate „echt“, „unecht“ bedeutungslos macht. Zwischen Sein und Inszenierung Eines ist sicher: Bei dem feministischen Septett bleibt nichts undurchdacht – Brecht ist ihr erklärter Lehrmeister. Ein bisschen verwunderlich daher, dass erst jetzt das erste Buch von und zu der Truppe erschienen ist mit dem schönen Titel „Sich selbst fremd werden“. Drei Vorlesungen versammelt es, die Lisa Lucassen, Ilia Papatheodoro und Sebastian Bark im Frühjahr 2018 an der Saarbrücker Uni hielten. Angesichts nach wie vor verbreiteter Missverständnisse über den speziellen „Realismus“ der Truppe, dem es keineswegs um naive Authentizität geht, sondern um das Machtspiel zwischen Selbstsein und Selbstinszenierung, sind die Texte hilfreich – auch wenn sich vieles in den Beiträgen wiederholt. Zwischen „heikel“, „riskant“ und „peinlich“ siedeln She She Pop sich selbst an. Wie könnte der Jubiläumswunsch da anders lauten als „Shame Shame Shame!“

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