Stimmen Sie für den Horizont!

„Nico and the Navigators“: Eine der originellsten Theatergruppen Deutschlands wird berühmt Manche haben sie erst spät entdeckt, andere wussten es sofort, und alle sind sich einig: Ein Gespenst geht um in Europa, das kein Manifest braucht, um Kult zu sein, und das auf den Namen Nico and the Navigators hört. Das klingt nach Popband, ist aber eine Theatergruppe, vermutlich die beste in der Freien Szene Berlins und drüber hinaus. Ihre Karriere verlief rasant, und das Schönste an dieser Erfolgsgeschichte ist, dass sie so untypisch ist, so Zeitgeist-konträr und unkalkuliert. Alles, was man heute so macht auf der Bühne, das Videogemotze und Blut-Sperma-Gepansche, all das verweigerten sie von Anfang an. Stattdessen ganz altmodisch: Humor und Poesie, Sturheit, Melancholie und Ungeschick. Wieder diese Schweizer Art der sanften Subversion, denkt man, Häusermann, Kienberger, Marthaler – und dann das: Aus Lübeck kommen sie, aus Hamburg, Dessau und Berlin. Trotzdem: „N & N“ sind Ehrenschweizer der Kunst. „Warum am Abhang die Herkunft verleugnen“ – na also, da sagen sie’s doch selbst. Der Satz stammt aus ihrer szenischen Installation Lucky days, Fremder! Roter Teppich, grüne Wand und dazwischen sechs einsame Inseln in Menschengestalt. Die Wand besteht aus lauter Schubladen, die manchmal knallgelb sind und auch sonst nicht sehr zuverlässig: Wenn man sie am dringendsten brauchte, bleiben sie zu oder, man muss das selbst sehen, verschlucken die Treppe. „Nie wieder für immer stolz“ heißt ein schöner Satz aus diesem Stück, in welchem die Ferne schon beim nächsten Menschen beginnt. „Stimmen Sie für den Horizont“ heißt auch nur: „Ich liebe dich“, aber es klingt halt cooler. Lucky days, Fremder! handelte vom Abschied, kam 1999 in den Berliner Sophiensælen heraus und avancierte schnell zum Geheimtipp. Zuvor gab es zwei Produktionen am Bauhaus Dessau, DenkVorGang (1996) und Ich war auch schon mal in Amerika (1998), wie alle Folgenden von Nicola Hümpel inszeniert, im Bühnenbild von Oliver Proske (Licht: Peter Meier). 1997 entsteht der Name der Gruppe, und ab da ist kein Halten mehr: jedes Jahr ein neues Stück, lauter Bausteine fürs Sisyphos-Denkmal namens „Menschenbilder“. „Edith, die Apotheke kommt!“ Die Regisseurin, 1967 in Lübeck geboren, studierte bei Achim Freyer und am Bauhaus in Dessau. Aber wie die Fantasie Haken schlägt und allen eine Nase dreht, das kann man sowieso nicht lernen, höchstens die Methodik dazu. Die Aufführungen sind kühl komponiert, hellwach, intelligent und pfiffig, ihre Dada-Logik schiebt Welt und Wahrnehmung in eins, der Blickwinkel gleicht dem eines Schlafwandlers kurz vor dem Absturz. Wundersame Sätze wie Morsebotschaften aus dem Gulli oder aus dem All verkünden, was niemand versteht, aber jedem einleuchtet: „vergleichsweise vorübergehend bewerkstelligt“ gilt da als legitime Aussage, und eine Drohung? Verheißung? lautet: „Edith, die Apotheker kommen!“ Dabei sind das eigentlich Spiele fast ohne Worte, wodurch jeder geraffte Satz doppeltes Gewicht erhält. Sprach- und Mimikdompteure sind hier am Werk, Ganzkörperpoeten des Absurden, die jeden Sinn so lange wörtlich nehmen, bis er sich verflüchtigt. Wie jemand geht, liegt, träumt, wird gezeigt und warum jemand nach oben will und nie ankommt, aber warum gerade das ihn beflügelt. Der Widerspruch als Lebensziel, das breiteste Lächeln als giftigster Pfeil, und Konsequenz zeigt sich sowieso nur im Schlamassel – lauter stille, böse Bilderrätsel übers Scheitern und seine Glorie. In der Anfangsszene von Eggs on Earth (2000) nähern sich die Darsteller einer Schuhputzmaschine, wie man sie auf Hotelfluren findet; sie benutzen sie und verschwinden. Nur die Beine sind noch zu sehen, und die liefern ziselierte Charakterstudien, indem sie der Maschine entgegenschreiten oder -tändeln, den Startknopf malträtieren oder liebkosen und dann frisch glänzend ihren Tag beginnen. Wenn man die Beine später wiedersieht, weiß man schon alles über ihre Träger. Das sind Wesen, die Karriere machen wollen; man sieht sie im freien Fall nach oben taumeln. Hümpel denunziert ihre Figuren nicht, sie stellt sie bloß, aber sie liebt sie dabei; ihr Spott ist zärtlich, nicht zynisch; trotzdem bleiben die Schlachtmesser scharf. „Wir wollen die menschliche Seele blank legen“, sagt sie, „alle Schutz- und Festhaltemöglichkeiten wegnehmen, sodass der Darsteller nur noch sein Gesicht hat, seine Existenz und seine zwei Sätze.“ Die Figuren, Bilder und Situationen entstehen durch Improvisation. Man verständigt sich über ein Thema, eine Farbe, einen Geschmack, und dann spinnt man los, jeder für sich und alle zusammen. Ein kontrollierter Kollektivrausch, der die Kreativität der Einzelnen nicht addiert, sondern multipliziert, alle in ungeahnte Inspirations- und Assoziationshöhen katapultierend. So etwas kann nur in einer Gruppe funktionieren, die alt genug ist, um verschworen zu sein, und jung genug, um sich gegenseitig noch zu überraschen. Im Geist Tatis, Allens und Keatons Dazu kommt die Arbeit am Tisch, eine écriture automatique, in der unzählige Satzschnipsel so lange neu zusammengesetzt werden, bis sie jene Eindeutigkeit des Abstrusen erreichen, für die N & N berühmt sind. „Wir bauen unsere Stücke, wie ein Maler seine Bilder baut“, sagt Nico Hümpel, „das ist ein schwieriger Prozess zwischen Instinkt und Intellekt, bei dem man nie dem Bedürfnis nachgeben darf, etwas zu Ende zu bringen.“ Wenn sie aus der Fülle des Materials später die Aufführung komponiert, achtet sie darauf, alles in der Schwebe zu halten. Sie hütet sich vor Begründungen oder Botschaften: „Es ist wichtig, die Sekunde zu finden, in der eine Szene abgebrochen werden muss, damit sie offen bleibt.“ Die Arbeitsweise erinnert an Pina Bausch, und die Ergebnisse werden denn auch oft als „Tanztheater“ beschrieben, andere nennen es „Bildertheater“. Aber natürlich lässt sich dieses aberwitzige Gebräu aus Alltag und Absturz in keine Schublade stecken. Wo „der Sinn eines Gegenstands sich erst durch den Gebrauch erweist“ (Oliver Proske), muss jede Kennzeichnung kapitulieren. Folgerichtig waren Die Dinge, nach Abschied und Arbeit, das Thema der nächsten Produktion Lili in putgarden (2001). Dabei ging es weniger um deren Gebrauchs- als um den emotionalen Mehrwert, denn schließlich kann man auch einen Staubsauger lieben: hängt nur von der Geschichte ab, die man zusammen hat, und vom Grad der Sentimentalität, den man sich gestattet. „Herrschsüchtige Mitbringsel“ und fremde Teetassen können das Leben aber auch ganz schön erschweren, und das umklappbare Bühnenbild, halb Zelt, halb Lotterbett, verschluckt Menschen und spuckt Kleiderbügel aus. Im Jahr 2002 entstand Familienrat. Proskes Bühne ist hier eine besonders raffinierte Mehrzweckfalle, in der Schuhregale zu Treppen mutieren, Tische zu Duschkabinen und Schwerter noch lange nicht zu Pflugscharen. Hier verändern sich die Dinge, nicht die Menschen, nur die Festung Familie ist ewig und uneinnehmbar. Weihnachten, das Fest der Schrecken, lässt Brötchenflocken schneien und vereint die Familienkrüppel in liebevoll verlogener Runde. Ein Schuft, wer Schlechtes dabei denkt, ein Dummkopf, wer’s nicht tut. Dabei haben sie gar nichts gegen Familien, sie sind ja selber eine, nur eben eine ohne Besitzanspruch. Das geht bis zum Verzicht aufs interne Copyright, jede Szene, die einer erfindet, darf von jedem anderen benutzt, verändert, plagiiert werden. Das klappt, weil sie einander vertrauen, auf der Bühne wie im Leben. Im Gespräch schwärmen sie von der Ehrlichkeit und Freiheit im Umgang miteinander, von Nestwärme, die nicht einengt, und Treue, die nicht stumpf macht. Eine Gruppe aus Gleichen, jeder Dichter und Athlet, lauter kleine Chaplin-Allen-Keaton-Tatis. Alle um die 30, kaum gelernte Schauspieler dabei – vielleicht wirken sie deshalb so authentisch und klar: jedes Gesicht eine Landschaft, jeder Körper der Sturm, der drüber hinwegfegt. Ihre Namen sind: Martin Clausen, Annedore Kleist, Lyon Roque, Verena Schonlau, Patric Schott, Peter Stock, Isabelle Stoffel, Lajos Talamonti, Sinta Tamsjadi, Julius Weiland. Man sollte sie sich merken, diese Namen, denn es kann sein, dass man ihnen bald auch anderswo begegnet. Ihre neue Produktion, die am 6. Dezember in den Berliner Sophiensælen Premiere hat, ist in dieser Zusammensetzung die letzte. Mit zunehmendem Erfolg, inzwischen quer durch Europa, weiten sich Horizont und Entdeckungslust, deshalb wird Nico Hümpel als Nächstes eine internationale Koproduktion machen. Die alten Stücke werden weitergespielt – an Einladungen mangelt es nicht. Aber nun gibt es noch mal Navigators pur. Kain, Wenn und Aber heißt das neue Stück, das von Entscheidungen handelt und von deren Unmöglichkeit. To be or not to be ist nie wirklich beantwortet worden – vielleicht geht’s mit Slapstick leichter als mit Shakespeare. Alle großen Fragen haben einen kleinen nöligen Kern. Also dann: „Die erste Entscheidung heißt: zu mir selbst – mutig – allein“, so beginnt das Stück, und man ahnt schon, wie dabei die Äuglein blitzen, während fahrige Finger alles gleich widerlegen.

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