Szenen aus dem Kloster

Das so genannte Education-Programm der Berliner Philharmoniker hat es sich zur Aufgabe gemacht, generationsübergreifend und quer durch alle Gesellschaftsschichten, Freude an klassischer Musik zu wecken. Vielseitig sind die Mittel dieser Form der musikalischen Bildung: Es gibt Konzerte für Kinder und Jugendliche, Workshops, Projekte mit ausgegrenzten Menschen – in dieser Saison sind es Strafgefangene – und es gibt die Vokalhelden: Laienchöre für alle Altersgruppen, die an professionellen Veranstaltungen beteiligt sind. Und immer sind als Motoren musikalische Spitzenkräfte dabei, vorneweg Sir Simon Rattle, der vor fast 20 Jahren mit dem Tanzspektakel Le Sacre du printemps das Programm furios initiiert hatte und zuletzt moderne Opern dirigierte, die auf das Konzept zugeschnitten waren. Sein Nachfolger Kirill Petrenko setzt das Engagement fort. Als Einstand wählt der neue Philharmoniker-Chef Suor Angelica, das lyrische Mittelstück von Giacomo Puccinis Dreiteiler Il Trittico, das er bereits im Ganzen in München dirigiert hat. Die Tragödie einer jungen Frau, die nach der Geburt ihres unehelichen Sohnes von der Familie ins Kloster verbannt wird, dort durch ihre Tante von seinem Tod erfährt und darauf den Freitod sucht, ist vom Stoff her ungewöhnlich für ein Education-Programm. Doch mag die Zeitlosigkeit des Mutter-Kind-Themas ausschlaggebend für die Wahl gewesen sein, zumal die Kurzoper viele kleine Rollen für junge Künstlerinnen bietet. Nicola Hümpel, Regisseurin der renommierten Performance-Truppe Nico and the Navigators, die gerade in Hannover mit Rossinis Barbiere di Siviglia einen Riesenerfolg hatte, aktualisiert Suor Angelica dezent und bezieht das Schicksal von Kindern, die von Krieg und Hunger bedroht sind, mit ein – samt im Programmheft abgedrucktem Spendenaufruf für ein Kriegskinderprojekt im Kongo. Die Nonnen sind eine Gemeinschaft von Außenseiterinnen. In einem zugefügten Klavier-Prolog aus Puccini-Motiven stellen sie sich nacheinander vor. Dann folgt die Oper, in der Hümpel mittels synchroner Bewegungen, rituellen Handlungen und tänzerischer Skizzen das einengende Klosterleben visualisiert. Dazu werden auf einer Leinwand die Gesichter in Großaufnahme eingeblendet – ein Charakteristikum der Navigators und ihres Bühnengestalters Oliver Proske. Faith to Face, Glaube an das Gesicht, so heißt ja der Untertitel. Auch den Auftritt und Abgang der Tante sieht man zunächst per Video. Sie steigt aus einem Taxi und wandert durch das Foyer der Philharmonie, bis sie schließlich die Bühne betritt. Später, nach ihrem spannungsgeladenen Duett mit Angelica, wird sie sich in der Bar betrinken. Doch im Grunde ist so viel szenischer Aktionismus gar nicht nötig. Weil sie von der Musik ablenkt und man doch jeden Takt intensiv aufnehmen möchte. Denn unter den Händen von Kirill Petrenko wird Puccinis Partitur zur Hauptattraktion. Allein schon, weil der Dirigent sie mit so viel Hingabe zelebriert. Wie er die Musik organisch fließen lässt, dabei feinste dynamische Abstufungen und Klangfarben herausarbeitet: Das macht die Aufführung zum Ereignis. Dass die Stipendiaten der Karajan-Akademie Petrenkos Zeichengebung mit größter Aufmerksamkeit verfolgen und in einen magischen Sound umsetzen, versteht sich von selbst. Die Angelica von Ann Tomey steigert sich nach verhaltenem Beginn zu ergreifender vokaler und darstellerischer Intensität, die von leuchtenden hohen Cs gekrönt wird. Katarina Dalayman strahlt als Tante majestätische Autorität aus und imponiert mit einem profunden Alt. Die Nonnen werden von Nachwuchskräften gesungen, von denen manche noch Studentinnen sind. Stellvertretend für das hohe stimmliche Niveau der Solistinnen sei die Äbtissin von Daniela Vega genannt. Und auch die Vokalheldinnen zeichnen sich durch absolute Homogenität aus. Großer Jubel in der ausverkauften Philharmonie nach einer denkwürdigen Education-Aufführung.

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