Tränen in der Socke

Lange waren Nico and the Navigators nicht so gut: "Kain, Wenn & Aber" in den Sophiensälen Der Satz am Anfang: "Die erste Entscheidung heißt: zu mir selbst". Tatsächlich haben Nico and the Navigators entschieden, sich "zu neuen künstlerischen Ufern aufzumachen". Nach "Kain, Wenn & Aber" soll vorerst mit Ensembleproduktionen Schluss sein. Die erst vor fünf Jahren am Bauhaus Dessau gegründete Truppe ist längst Kult. Aber die letzten Inszenierungen von Nicola Hümpel zeigten sanfte Ermüdungserscheinungen und Leerstellen. Und nun diese Überraschung: Die jetzige Aufführung ist die schönste, die feinste seit langem! Selbst das Premierendatum, den N i k olausabend, hatten die Navigatoren erstklassig ausgewählt. Einen Socken gibt es tatsächlich. Der wird aber nicht mit Keksen gefüllt, sondern verschwindet im Mund eines Darstellers. Und dieser verabreicht alsbald einem Kollegen mit Hand und Fuß eine Frisur-Gewaltbehandlung, wie sie kein Haarkünstler in Berlin, Moskau oder Ancona zu bieten hätte - selbstredend sind dort bereits Gastspiele gebucht. Das Ensemble macht in seinen aus Improvisationen hervorgegangenen Stücken nicht viele Worte. Aber nachdem zu Beginn in einem Ketten-Wortspiel der Begriff "Bestimmung" durchgearbeitet wurde - "wer bestimmt eigentlich, wer bestimmt?" - ist klar, wo der Hase lang laufen wird. Es geht, irgendwie, irgendwo, um die uralte Menschheitsfrage, ob der Mensch frei sei, sein Schicksal zu gestalten, oder ob nicht vielmehr dieses ihn im harten Griff festhalte. Wer die Nicos kennt, weiß: Der Abend wird nie grundsätzlich oder eindeutig festgelegt. Schon vorneweg präsentieren sich die sieben Akteure, drei Frauen, vier Männer, mit schräg gegelten Frisuren und sprechend stummem Mienenspiel. Da gibt es Anklänge an die elterliche oder gesellschaftliche Erziehung, Versuche, das Individuum auf eine bestimmte Lebensrichtung festzunageln, astrologische Banalverheißungen. Von globalisiertem Geflügel, vom Auf und Ab des Dax an der Börse wird erregt berichtet. Und in einer Szene ergeht die Aufforderung, alles Persönliche bitte abzulegen, den Mantel, die Kreditkarte, das letzte Piercing. Diesmal werden keine Staubsauger Gassi geführt, kein Hühnerei erlebt auf dem Luftkissen eines Haushaltsgerätes unerwartete Höhenflüge. Die Szenencollage gehorcht ihrerseits selbst und restlos dem Gesetz surrealer Schwerelosigkeit. Nach dem Sinn darf gefragt werden, aber um die Antwort wird amüsant, hintergründig vordergründig und entzückend albern herum gespielt. Diesen Satz haben wir uns für den täglichen Bedarf sofort eingeprägt: "Die Fähigkeit, intellektuelle Zusammenhänge zu verstehen, nimmt jetzt drastisch zu". So empfindsam und crazy, so liebevoll verrückt waren Nico and the Navigators noch nie. Draußen im Nikotin-gesättigten Foyer haben wir uns zuvor beinahe ein Cocktailparty-Syndrom in die Beine gestanden, bis endlich die Tür aufging. Und dann lief der Spaß so geölt, dass wir nicht ein einziges Mal auf die Uhr sahen. Wir weinen daher zum (langsamen) Abschied eine Träne in unsere eigenen Socken.

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