Und zwar sofort
Metamorphose als Kontinuum: In "Kain, wenn & aber" der Berliner Performergruppe "Nico and the Navigators" geraten Bewegungen, Bedeutungen und Bilder ins Fließen Am Anfang steht das Bekenntnis. Da ist der Stuhl auf der Bühne, hinter den die Darsteller einzeln treten, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Blick spricht von der Entscheidung, die man getroffen hat. Entschlossen zieht die Erste ihre Baskenmütze über den Kopf; der mit den goldenen Schnallen am Schuh hingegen scheint seine Mission vergessen zu haben, befühlt zögerlich die Lehne. Dafür steht seine Kollegin umso großäugiger mit dem "Ja, ich will"-Blick im Orgelklang. "Die erste Entscheidung heißt, zu mir selbst - allein", wird sie später sagen, als die anderen Ensemblemitglieder von "Nico and the Navigators" sich auf der Bühne verteilt haben und dort ihre Parallelwelten entfalten. "Kain, wenn & aber", die neue Produktion der Berliner Performergruppe, ist die Metamorphose als Kontinuum. Kein Erzählen einer Geschichte, sondern eine Abfolge von Szenarien, weniger Handlungsstrang als Stimmungen, mal ineinander gleitend, mal scharf durchtrennt. Zusammenhalt geben die Motive; Sätze, die wieder auftauchen und, von einem anderen gesprochen, ihre Bedeutung verändern, oder Bewegungen. Die Baskenbemützte etwa verteilt Flugblätter; agitatorisch aber stumm formt sie ihre Botschaften vom Halbrund der Bühne hinunter, während ihr Kollege unten einen Socken in seinen Mund schiebt. Zwei andere ringen sich die Kleider vom Leib. Später werden die Flugblätter zu Pässen, dann zu Tarotkarten und halten in einer vergangenen Sprache ein Versprechen bereit: "Da ist jemand aus deinem Kollegenkreis, der dir sehr zugetan ist". Bisweilen fallen die Sätze im Vorübergehen und wenn eine Erkenntnis erlangt wird, bleibt sie ein kleines Rätsel. Ah, mag man sich denken, Bedeutung in der Schwebe: Vom Sowohl zum Auch einen Spannungsbogen ziehen und dann das weite Feld schillern lassen. Hat man von Ambivalenz, dieser populärsten aller Schonhaltungen, nicht langsam genug? Wie heißt es doch im Stück: "Rien ne va plus, und zwar jetzt." Dabei geht es der Regisseurin Nicola Hümpel nicht um die Unentschiedenheit, als die Ambivalenz meist verstanden wird. Die sei ein "Ärgernis der Zeit". Was sie sehr wohl interessiert, ist das "dualistische Prinzip": die Gleichzeitigkeit von Schmerz und Glück etwa. Der Moment sei immer entschieden, sagt Hümpel. In diesem Moment beginnt die Geschichte, allerdings im Kopf des Betrachters. Das Bühnenbild, dieses graublaue teilbare Halbrund - grau als die Farbe, die alles in der Schwebe lässt - ist der offene, unentschiedene Raum. Ist er Mauer, Hain oder Stube? Jeder mag in ihm etwas anderes sehen, und ohnehin konkretisiert er sich immer wieder neu, wird Revoluzzerkeller, Marktplatz oder Raumstation. Hümpel treibt den Moment weiter, dann kommt der Schnitt. Wie in der bildenden Kunst, von der sie kommt: die Linie, die nicht im Ornament erstickt. Das bildnerische Verfahren auf das Theater übertragen heißt, "eine gestochene Frage sichtbar zu stellen". Der erfolgreiche Betrachter also navigiert im Stück wie in einem anderem Medium. Damit folgt er dem Verfahren der Navigators selbst: Prinzipien eines Mediums in ein anderes zu überführen. Das führt zur Frage, wie das, was dabei herauskommt, eigentlich zu bezeichnen ist: "Designtheater" klingt ebenso despektierlich wie "Figurentheater" und führt dazu auf falsche Pfade: als ginge es um die hübsche Oberfläche. Wie ihre Arbeit zu bezeichnen ist, weiß Hümpel selbst nicht. Dafür umso genauer, was es mit ihr zu erreichen gilt: den Betrachter in die Nachdenklichkeit zurückzuführen."
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