Verlust und Faustschlag

Selbst den liebes- und leidtrunkenen Sonetten Shakespeares kann sie noch Humor abgewinnen. Denn Nicola Hümpel - sie ist die Nico der Navigators - konfrontiert die aufs äußerste komprimierte Lyrik, entstanden vor 1609, unter anderem mit einem Mann von heute, der als Abiturient bei der Sonett-Interpretation schmählich gescheitert war: Nebulös unverständlich, so hatte er damals geschrieben. Jetzt ist er Umweltschützer. Je mehr er die Sonette verstehe, desto mehr gehe es mit dem Mischwald bergab, bis zu Erosion, Abrieb von Steilküste. Ganz schön rumgeholzt habe Shakespeare damals, findet er. Dann redet er zu Sebastian Herzfelds sanfter Live-Musik weiter, die dem Wortklang ihren Tonklang beifügt. Dies ist eines der Bilder, mit denen sich die Regisseurin Nicola Hümpel den hochartifiziellen Kunstprodukten jenes Meisters anschmiegt oder entgegenstemmt, der die 154 Sonette einst verfasst hat. Zehn von diesen bringt sie gleichnishaft auf die von einem Hintergrundbogen umfasste Szene des Theater Aufbau Kreuzberg. Scheu betritt sie Adrian Gillott, ein Navigator-Urgestein. Und meint, der Dichter habe beim Schreiben getrunken und viel geweint. Stülpt sich eine Perücke über, schlüpft in dessen Part. Mit den englischen Originalen hat er es leicht, doch sie sind Heutigen schwer verständlich. So kommt seinen Mitspielern Nils Dreschke und Sebastian Fortak die Rolle zu, spielerisch die Eindeutschungen zu liefern. Etwa 300 Übersetzer haben sich an den sprachlich dichten Klagen über den Verlust an Schönheit, Jugend, Liebespartner versucht. Alle klingen sie anders - was jedoch meint der Lyriker wirklich mit seinen Worten? Auch das thematisiert der gut 75-minütige Abend. Sicher ist, dass 126 der Sonette an einen jungen Mann gerichtet sind, Realperson oder Dichterfiktion. Hümpel lässt deshalb ihre Männer mit Tutus über der Anzughose agieren. Wenngleich dieses Ballerinenrequisit erst viel später erfunden wurde, steht es für das Androgyne der Situation und zugleich die Tradition des elisabethanischen Theaters, Frauenrollen von Jünglingen spielen zu lassen. Während "Shakespeare" Gillot über die Liebe in fiebrige Rage gerät und sein Zuhörer das Tutu zum modischen Kragen der Zeit formt, verteidigt sich der Dichter, es gebe im Deutschen eben zu wenige Wörter für maßgerechte - Übertragungen. Sein Lamento über das Altern und den Apell, sich im Kind zu reproduzieren, "spricht" die Puppe eines Greises. Nachdem sie erst gestorben, dann wieder lebendig ist, geht diese Puppe eine Frau, die Sängerin Julla von Landsberg, zudringlich an. In einer weiteren Szene wird sie groteskes Oberteil eines menschlichen Unterteils: Shakespeare schreit ihr ins ertaubende Ohr sein Weh um eine verlorene Liebe. Dann wir die Regisseurin deutlicher und stellt dem Wehklagenden einen Mann zur Seite, der ihm die Hand küsst und an ihm niedersinkt, als er das titelgebende Sonett 90 haucht: "Hate me when thou wilt..." - hass mich, wenn du willst, doch verlass mich nicht. Aber Hümpel wäre nicht die feinsinnige Regisseurin, würde sie das Verlustpathos nicht noch ironisch brechen. Ein Faustschlag ins Genital krümmt den, der behauptet, kein größerer Scmerz als jener Verlust könne ihn treffen. Als Shakespeare sich zunehmend in Schmerzbereitschaft dichtet, sich in Sonett 90 als Sklave des Geliebten sieht, baut man ihn in ein Pakettstück ein, begleitet die Sängerin mit Vokalisen sein Leid. Zwar befreit er sich aus dem Kerker, doch einmal auf den Geschmack gekommen, ist er kaum zu bremsen. Wie ein Rockstar tönt er, musikalisch rhythmisiert, neben den Trümmern Lyrik in ein Mikro, auch noch, als die Musik verstummt, der Ton abgedreht wird, das Licht erlischt. Eben Shakepeare forever. Ob Shakespeare so eitel war, wie hier angedeutet, gehört ins Reich künstlerischer Freiheit. Die nutzt Hümpel zu einem sehr persönlichen Ausflug in die Welt des Dichters, sucht hinter dessen Motive zu kommen und das, was zum Lesen gedacht ist, der Theaterbühne zuzuführen. Fahrige, marionettenhafte mechanische Bewegungen illustrieren die häufig entrückte Diktion der Gedichte in dieser anregenden Kooperation mit dem Puppentheater Halle.

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