Von betörender Schönheit

Die Christuskirche in Wittenberg ist sowohl äußerlich als auch von innen her keine Schönheit. Aber man kann sie auch akustisch nutzen für Konzertereignisse besonderer Art, wie am Samstag mit „Cantatatanz“ im Rahmen des Internationalen Musikfestivals „Himmel auf Erden“ in Wittenberg geschehen. „Cantatatanz“ ist eine sinnlich-erotisierende Darstellung sakraler Bachscher Musik, mit der die Berliner Theatercompagnie „Nico and the Navigators“ (Regie und Konzept: Nicola Hümpel) ihre Deutungshoheit zu, mit und über Bach in Anspruch nimmt, ohne dabei die musikalische Aussage, die klangliche und künstlerische Schönheit Bachscher Musik je infrage zu stellen. Grandiose Tänzerin Denn für das musikalische Sujet sorgte ein wunderbares Barock-Ensemble (Mayumi Hirasaki, Violine, Jakob David Rattinger, Viola da Gamba, Eugène Michelangeli, Orgel und Cembalo) zusammen mit dem Countertenor Terry Wey, dessen Stimme allein schon betörte. Wey und die Tänzerin Yui Kawaguchi bildeten hier das gestische Zentrum der Aus- und Umdeutung der Texte, die dadurch vielleicht die Ernsthaftigkeit ihrer Aussage, nicht jedoch die musikalische Botschaft in Zweifel zogen. Das Zentrum der Bühne bildete der podestartig erhöhte Altarraum, auf dem vier Kirchenbänke drapiert waren, die situativ in ihrer Anordnung variierten. Insgesamt einbezogen wurden Empore sowie Mittel- und Seitengänge des Kirchenschiffs. Hier wirkte vornehmlich Yui Kawaguchi, eine tänzerische Schönheit, teils flatternd, den erotisierenden Illustrationen immer gefällig, wie ein Schmetterling. Liebreizende Verführungsandeutungen ergänzten das Szenario. „Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh“ (aus BWV 508), begann geheimnisvoll Terry Wey zusammen mit Kawaguchi wie eine Liebeserklärung an Anna Magdalena. Dabei drückten die tänzerischen Berührungen, die Hände eine Sinnlichkeit aus, die Bachs innige Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau Anna Magdalena beschreiben könnte. Der Gesang hatte da eine himmlische Attitüde. Stimmliche Exzellenz Kesse Flirts zeigten sie dagegen bei „Widerstehe doch der Sünde, sonst ergreife dich ihr Gift“, bei der Terry Wey aus der Okuli-Kantate seine stimmliche Exzellenz einmal mehr präsentierte. Das Zusammentreffen dieser Truppe mit der himmlischen Schönheit dieses beinahe überirdisch wirkenden Countertenors war ein Hochgenuss. Das vergnügliche Glucksen des Publikums angesichts dieser unbeschwerten Spiritualität, die dem Text ein anderes Kontra gab, ließ sich nicht vermeiden - und sollte es ja auch nicht. Herrlich dann die szenische Darstellung von teils rüpelhaften, desinteressierten Zuhörern bei der Darbietung einer von Mayumi Hirasaki eindringlich gespielten Violin-Chaconne. Ein herrliches Spiegelbild von Zuhörern, wie sie kollektive Ignoranz zur Schau stellen können. Bei den Goldbergvariationen zeigte Yui Kawaguchi in ihrem Tanz nicht nur akrobatische Rafinesse, als sie unter dem Cembalo galant ankommend dem Cembalisten Michelangeli mit ihren Füßen filigran die Schnürsenkel des rechten Schuhes öffnete, um dann den Fuß zu „entkleiden“ und in Harmonie ein Tête-à-tête für drei Füße zu entfesseln, wohlgemerkt - während des Cembalospiels. Das „Füßeln“ kennt man doch irgendwie. Wunderschön war auch das Lamento „Ach dass ich Wassers g’nug hätte“ von Johann Christoph Bach, das entwaffnend mit einem markig-durchdringenden Schrei Michelangelis den Zuschauer aus seinem verträumten Dösen aufschreckte, so als wollte er sagen: „Junge, es ist genug“! Schwebende Bänke Nicht unerwähnt sein darf die brillante Ausleuchtung der Szenerie (Ingo Nieländer, Fabian Bleisch), die dem Ganzen eine Transzendenz von der Breite in eine unendliche Höhe verlieh: Die Kirchenbänke schwebten nacheinander förmlich von der Horizontalen in eine säulenartige Vertikale, in ihrer Leichtigkeit verschiebbar, als wollten sie eine Deutung im Unendlichen aufzeigen. Sehr gut gelungen, leider vor wenig Publikum. Erhard Hellwig-Kühn, 10.07.2012

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