Was uns berauscht – 25 Jahre Nico and the Navigators: „sweet surrogates“ im Radialsystem
Nebelschwaden wabern durch eine winterliche Landschaft. Unter der großformatigen Video-Projektion liegt ein Trüpplein Menschen und reibt sich die Augen, als wäre es gerade erst in die Welt gefallen. „Und sind wir müde, soll uns Kunst erregen“, die Gedichtzeilen aus „Künstlerweihe“ von Hugo von Hoffmannsthal heben die Szenerie dann vollends über die Schwelle zum Romantizismus. Mit dieser kleinen Zeitreise macht die Jubiläumsproduktion gleich am Anfang klar:
In „sweet surrogates“ rückt die Kunst selbst in den Fokus.
Was taugt sie in Zeiten von Dauerkrisen und Verunsicherung als Zufluchtsort? Wie viel kollektiver Rausch lässt sich heute noch mit ihr erleben? Die Kammerversion des im Frühjahr diesen Jahres gezeigten „Lost in Loops“ soll diese Fragen abtasten. Was erst einmal nach sperriger Kost klingt, wird bei Nico and the Navigators zu einem leichtfüßigen Ritt durch die Referenzen. Und welche musikalischen Hochkaräter hat die 1998 von Nicola Hümpel und Oliver Proske am Dessauer Bauhaus gegründete Compagnie nicht schon aus dem Fundus geholt: Schubert, Mahler, Rossini, Britten, Schütz, Händel, um nur einige zu nennen.
Aber was macht nun die spezielle Handschrift der Navigatoren aus? Klassisches Material durchlässig für heutige Augen und Ohren machen? Musik, Text und Bewegung collagenartig so verbinden, dass die Themen wie von allein weiterschwingen? Selbst den existenziellsten Fragen eine bittersüße Leichtigkeit verleihen? Alles zusammen könnte man an dieser Stelle antworten! Und noch ein anderer Aspekt lässt die Produktionen, die so gern das musikalische Erbe umarmen, auf der Höhe der Zeit erscheinen: der Einsatz von Technologie. Nicola Hümpel und ihre Mitstreiter:innen gehörten in Europa zu den Ersten, die mit VR-Brillen und Augmented Reality im Theaterraum experimentierten.
In „sweet surrogates“ sind es die Live-Kameras neben und über der Bühne, die den visuellen Sog des Gezeigten steuern und steigern. Die taiwanesische Sopranistin Peyee Chen schraubt in Großaufnahme ihre Stimme in barocke Höhen und hält Patric Schott und Martin Clausen dabei wie Marionetten an den Köpfen. Ihre Gesichter werden im Zoom zu Landschaften der Verzückung und Pein. Überhaupt gleicht das Ensemble in seinem Spiel Elementarteilchen, die immer haarscharf über den schmalen Grat von Ekstase und Absturz wandeln. Ein Zurück gibt es nicht, nur ein Weiter. Wie im echten Leben.
In diesem eklektischen Kosmos verwundert es auch nicht, wenn neben dem Wahnmonolog aus „Die Meistersänger von Nürnberg“ Bob Dylon auftaucht, der „Buckets of rain“ ausschüttet. Wenn Notenblätter ein rasantes Rendezvous mit einer Windmaschine haben oder ein einsamer Breakdance plötzlich alle Traurigkeit der Welt einzufangen scheint. Am Ende schließt sich sogar noch für das Nebelmeer vom Anfang die thematische Klammer: Mit einer hinreißend brüchig hingehauchten Version des Beatles-Songs „Here comes the sun“. Happy Birthday!
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