Zur Eröffnung des RADIALSYSTEM.V.

...Es ist Zeit, dass wir merken: Die Künste, die sicht- und die hörbaren, haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. So unentbehrlich es ist, die Oper als Oper, das Schauspiel als Schauspiel zu erhalten, den Tanz als Tanz, die Ausstellung als Ausstellung, das Konzert als Konzert – das oft Aufregendste, Erhellendste, das heute in Spiel, Bild, Ton entsteht, sucht gemeinsame, die altgeheiligten Gattungs- und Mediengrenzen überschreitende Formen. Vielleicht haben wir es vor lauter Verzauberung uns gar nicht klargemacht: Das Schöne und Gewagte, das wir in der vereinigten Stadt sehen durften (ob hier produziert oder eingeladen), entstand aus dem Zusammenspiel der Künste. Einige Exempel: Christoph Marthaler hat in „Murx den Europäer ab“ der Volksbühne Schauspiel und Musik tiefsinnig-heiter zusammengespannt. Alain Platel holte in „Iets op Bach“ (Hebbel-Theater und Schaubühne) aus Bachs Kantaten mit Tanz und Bild erschütternde Wahrheit. In „D‘avant“ verbanden sich je zwei Tänzer aus Sasha Waltz‘ Berliner mit Alain Platels Genter Truppe zu einem Stück, dessen einziger Laut aus dem eigenen, herrlichen a cappella-Gesang der vier Tänzer besteht. Und noch in diesen letzten Wochen: In den sophiensaelen kontrapunktierte die Truppe Nico and the Navigators eine Handlung moderner Einsamkeit mit Schuberts Verlorenheitsmusik; in der Staatsoper verbanden Robert Wilson und Anja Silja das rätselhaft stumme Spiel aus „Deafman Glance“ mit dem Musikdrama von Schönbergs „Erwartung“... Das Wort „Gruppe“ oder „Truppe“ kam in meiner Rede öfters vor. Solche ad hoc formierte „Gruppen“ oder feste „Truppen“ bedeuten: Nicht nur die Künste, auch ihre Produktionsweisen haben sich verändert. Wie verschieden und doch ähnlich sind schon die Stücke, von denen ich sprach, zustande gekommen! Wilsons Kindermord-Szene machte einst den Anfang. So sehr darin heute jede Bewegung, jeder Lichtwechsel geregelt erscheint – das siebenstündige Werk „Deafman Glance“, aus dem sie stammt, entstand schon vor 35 Jahren aus Wilsons Arbeit mit einem taubstummen schwarzen Elfjährigen. Um dieses Experiment der Verständigung zwischen zwei Menschen bildete sich 1971 eine Gruppe – ein Geburtsdatum des neuen Theaters. Und heute? „D‘avant“ hat keinen Choreographen, es ist die tänzerischeund musikalische Gemeinschaftsaktion von vier nicht austauschbaren Menschen. Alles, was ihre Beine und ihre Kehlen, was ihre Körper, Herzen und Gehirne können, bringen sie in eine gemeinsame Handlung ein. Nicos „Wo du nicht bist“ (dort ist das Glück) kennt keinen Autor und keinen Regisseur, die jeden Vorgang schon vor dem Probenbeginn den Spielern vorgeschrieben, vorinszeniert hätten. Die Arbeitsmethode nennt sich und ist „angeleitete Improvisation“: eine Gruppenfindung in bald mimischen Zeichen, bald in französischen, japanischen, holländischen, deutschen, englischen Sprachhandlungen, die wir nach und nach enträtseln. Solche Arbeitsweisen sind heutig. Oft ähneln sie dem Teamwork kleiner Gruppen um einen Forscher-und-Organisator, aus dem im Computer-Zeitalter die technisch-wissenschaftliche Avantgarde von Silicon Valley entstand. Und jedesmal ähneln sie jener uralten, schöpferischen Form europäischen Theaters, das (von der commedia dell‘arte bis zu Shakespeares, Molières Kompagnien) ein Theater der Truppe war. Lassen Sie mich über den Zustand des deutschen Theaters ein Wort sagen. Unser Modell des autor- und regisseursbestimmten Repertoiretheaters ist gewiss erhaltenswert. Ganz Europa hat es im 20. Jahrhundert bewundernd nachgeahmt... Die „Klassiker“, die mich in den letzten Jahren ergriffen, kamen aus freien Truppen zu den Berliner Festspielen: so Peter Brooks „Hamlet“ aus dem C.I.C.T von Paris, so Árpád Schillings „Möwe“ aus dem Krétakör von Budapest. Und zurück zu uns: Der einzige feststellbare Autor von „Wo du nicht bist“ heißt Franz Schubert....

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