Lilli in putgarden

Haben Dinge eine Seele? Sprechen sie zu uns? Wie schlagen Gegenstände Brücken zu menschlichen Geschichten und wann ist unser Respekt vor ihnen so groß, daß wir sie nicht zu verändern wagen? Nico and the Navigators lassen die Dinge in der Theaterwelt zu einem eigenen Kosmos expandieren.

Was passiert wenn sich 10 Navigators eines Morgens nichts ahnend mit Videokameras, Fotoapparaten, Tonaufnahmegeräten und Zeichenmaterial treffen, um dann eine unangekündigte Exkursion durch ihre Wohnungen zu machen; sie genau 15 Minuten schweigend durch jedes Domizil ziehen, ihre Blicke wie durch ein Museum über die am Morgen hinterlassenen Stilleben schweifen lassen und verschiedene Bildsequenzen festhalten? 

Wie verändert sich die Sicht auf unsere eigene Dingwelt, wenn wir diese Bilder wochenlang immer wieder in Erinnerung rufen, uns von ihnen Geschichten erzählen lassen, sie in der Theaterarbeit zu einem eigenen Kosmos expandieren lassen? Gibt es in Ihrem Dasein ein liebstes Stück? Wie und wann schlagen Gegenstände Brücken zu menschlichen Geschichten und wann ist mein Respekt vor den Dingen so groß, daß ich sie nicht zu verändern wage? Welche Objekte begleiten mich durch mein gesamtes Leben? Haben Dinge eine Seele? Geht von ihnen Magie aus? Sprechen sie zu uns? Gehen wir mit ihnen um oder sie mit uns?

 

„Es war eine große Enttäuschung, mit der sich auch unsere Kinder schwer abfinden, daß man die materielle Welt nicht verstehen, sondern nur erklären kann“ 

(Eduard Spranger, Die Magie der Seele)

 

„Die Wahrheit aber, die im Sein der Dinge gelegen ist, bedenken nur wenige“ 

(Anselm von Canterbury)

 

„Es ist nicht leicht, sich in den Dingen auszukennen“ 

(Vilem Flusser, Dinge und Undinge)

 

DIE TANZENDEN SEELEN DER DINGE

Mit Lilli in putgarden wird nicht nur die Menschenbilder-Trilogie zu einem krönenden Abschluss geführt, sondern endlich jenen Dingen zu ihrem Recht verholfen, die in der Arbeit von Nico and the Navigators schon immer eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Doch nachdem sie in der Vergangenheit eine dienende Funktion übernommen hatten, werden sie nun in den Mittelpunkt gestellt: Das bis dato wohl tänzerischste Stück der Kompanie, in dem auch Video zum Einsatz kommt, geht den Dingen auf den Grund und treibt sie auf die Spitze, es gibt ihnen Raum und denkt sie zu Ende. Wer die spielerisch leichte Inszenierung in ihrer schlichten, cremefarbenen Eleganz sieht, kann tatsächlich glauben, dass pneumatischen Geräten jene Seele innewohnt, die ihr Name nahelegt. Er weiß, wie obszön die Begegnung zwischen einem Fön und einer Handtasche ausgehen oder wie ein Handstaubsauger zu einem erotisch konnotierten Tanz verleiten kann – und dass ein Jackett auf einen Stummen Diener wie ein rotes Tuch wirkt. Lilli in putgarden handelt von der Entwertung der Gegenstände in Zeiten der Massenproduktion, entlarvt die Versprechen der bunten Warenwelt ebenso wie den Leichtsinn der Wegwerfgesellschaft oder den alten Spruch „Kleider machen Leute“. Zugleich sucht das Ensemble hier nach den Lieblingsdingen, an die man sein Herz hängt und die man mit Erinnerungen überhäuft. Und passend zum „Welttassentag“, der im Stück ausgerufen wird, fungieren diese Gefäße als Leitmotiv der Inszenierung, in der man auch lernen kann, dass identisch aussehende Fausthandschuhe dem wahren Kenner ihre Herkunft aus sehr unterschiedlichen Epochen verraten – oder dass ein Kleid auf einer Leine keinen Leib braucht, um tanzen zu können. Lilli in putgarden zeigt das Ensemble in seiner ersten Stammbesetzung auf der Höhe seiner Kunst als eine geschlossene Gruppe von Individualisten. 

Zwei Jahre nach der Uraufführung präsentieren Nico and the Navigators das Stück erneut in den Sophiensælen, diesmal als Triptychon zusammen mit den beiden ersten Menschenbilder-Produktionen Lucky days, Fremder! und Eggs on Earth. Auch in Frankreich sorgt diese einmalige Werkschau für Furore.

ANDREAS HILLGER

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Pressestimmen

Esther Slevogt / TAZ

…Nicos Navigatoren steckt die Krise, in die unsere modernen Zeiten den Einzelnen immer wieder stürzen, deutlich in den Knochen: die Übermacht der Gegenstände einerseits, die man in klassenkämpferischen Zeiten vielleicht noch „Waren“ genannt hätte. Aber auch die virtuellen Gegenwelten haben bei den schönen jungen Menschen zu deutlichem Substanzverlust an Körper und Seele geführt… Und so fechten Nico and the Navigators fast zwei Stunden mit den Dingen einen seltsamen Kampf um die Bühnenpräsenz aus. Bücher, die wie von Geisterhand auf die Bühne gelangen. Tassen, die sich bewegen und plötzlich wieder vom Erdboden verschluckt sind…

Esther Slevogt / TAZ

Nico and the Navigators stellen in ihrem neuen Stück existentielle Fragen nach dem Bewusstsein der Dinge Das Dessauer Bauhaus steht wie kaum eine Designschule für die Magie der Gegenstände. Indem hier den Dingen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts jegliche Verkleidung abgenommen wurde, waren sie auf ihre reine Form reduziert, die ihnen so eine fast mythische Bedeutung verlieh. Ebendort gründete die 1967 in Lübeck geborene Architektin Nicola Hümpel vor fünf Jahren ein Ensemble, das sie „Nico and the Navigators“ nannte. Ein Name, der sich assoziativ auch in die Richtung der körperlosen Welt des Internets erstreckt. In den letzten Jahren hat die zwischen Tanz-, Bewegungs- und Bildertheater oszillierende Truppe sich in die Oberliga der Freien Szene gespielt. Das neue Stück wurde nun sogar im Stern groß angekündigt: „Lilli in putgarden“. Da keimte dann wohl manchem Kritiker der Verdacht, hier könne etwas nicht stimmen. „Designertheater“ las man. Und das ist ein böses Wort. Doch so einfach ist das nicht. Denn Nico and the Navigators thematisieren ja gerade die existenzielle Verunsicherung des Einzelnen, der an der Schnittstelle zwischen Sein und Design das Bewusstsein von sich selbst verliert. Nicos Navigatoren steckt die Krise, in die unsere modernen Zeiten den Einzelnen immer wieder stürzen, deutlich in den Knochen: die Übermacht der Gegenstände einerseits, die man in klassenkämpferischen Zeiten vielleicht noch „Waren“ genannt hätte. Aber auch die virtuellen Gegenwelten haben bei den schönen jungen Menschen zu deutlichem Substanzverlust an Körper und Seele geführt. Langsam schweben die Figuren wie Fragmente ihrer selbst durch ein gestyltes Ambiente (Bühnenbild Oliver Proske). Immer lächelnd, manchmal mit dem Ausdruck eines unendlichen Erstaunens im Gesicht. Ab und zu kommt ein Satz aus ihren Mündern, der wie übrig geblieben aus einstigen Sinnzusammenhängen klingt: „Sind Erinnerungen ungesund?“, wird da zum Beispiel gefragt. Oder ob die Dinge denn eine Seele haben. Die letzte Produktion der Navigators, „Eggs on Earth“, befasste sich mit den Absurditäten der Arbeitswelt. Nun ging es um die Gegenstände, die in unserem Leben so wichtig geworden sind, dass sie dem Menschen in der Hierarchie der Schöpfung Platz eins längst streitig machen. Sieben junge Leute kommen also auf die Bühne, sorgsam gestylt und in cremefarbene Kleider gehüllt. Es könnte sich auch um die Präsentation von Designer-Garderobe handeln. Doch die Eleganz ist empfindlich gestört: durch unvermittelt abstehende Haartollen, einen entrückten Gesichtsausdruck oder merkwürdiges Benehmen. Plötzlich reißen sich alle die Kleider vom Leib. Aus dem entstandenen Kleidergewirr lässt sich der verlorenen Chic nicht mehr rekonstruieren. Die vielen Sammeltassen, die am Bühnenrand den Abend über stumme Präsenz zeigen, haben es da einfacher. „Die stille Rückkehr herrschsüchtiger Mitbringsel“, bringt es ein Navigator währende des Abends mal auf den Punkt. Jemand anderes ruft den „Welt-Tassentag“ aus. Denn natürlich ist es leichter, für etwas zu sein. Mit dem Sein an sich ist es da viel komplizierter. Und so fechten Nico and the Navigators fast zwei Stunden mit den Dingen einen seltsamen Kampf um die Bühnenpräsenz aus. Bücher, die wie von Geisterhand auf die Bühne gelangen. Tassen, die sich bewegen und plötzlich wieder vom Erdboden verschluckt sind. Im Hintergrund flattert auf einer Leinwand auf einmal ein Kleid im Wind. Eine Frau tritt auf und zieht wie einen Hund einen Staubsauger hinter sich her. Unterlegt hat Nicola Hümpel den Abend mit einem dicht geknüpften Klangteppich aus E- und U-Musik, der den absurden Slapstickhumor mit melancholischen Sentiment auflädt. Mann und Staubsauger tanzen dazu einen dramatischen Pas de deux. Wie dichter Nebel legt sich die Musik auch dem Zuschauer aufs Gemüt. Da verzieh man manche Länge, saugte Bilder und Stimmungen auf und freute sich an den Körpern, di da so herrlich melancholisch von der Sehnsucht erzählten, sich selbst einmal genau so ernst wie die Dinge nehmen zu können, einmal im leben so sinnvoll wie ein Staubsauger zu sein.

Peter Laudenbach / Tip

…Fast scheinen die Darsteller in ihren weiß, creme und beige getönten Kunstuniformen, verfremdeter Alltagskleidung, mit dem weißen Bühnenbild zu verschmelzen – sie wollen sich nicht in den Vordergrund drängen, weder farblich noch durch übertriebene Dramatik. Sie bleiben charmante Vortänzer und spleenige Opfer der Dinge und verschwinden auch gerne in den Klappen, Ritzen und Zelten, die sich im Bühnenbau auftun…

Peter Laudenbach / Tip

Ein altes rotes Jacket und ein stummer Diener führen einen Stierkampf auf, Föhn und Handtasche sind in Schmuggel und dunkle Geschäfte verwickelt wie in einem Agentenfilm, eine orangene Gummischürze verwandelt sich abwechselnd in einen Schwangerschaftsbauch oder ein Gummikissen mit verblüffender Eigendynamik... Fast scheinen die Darsteller in ihren weiß, creme und beige getönten Kunstuniformen, verfremdeter Alltagskleidung, mit dem weißen Bühnenbild zu verschmelzen - sie wollen sich nicht in den Vordergrund drängen, weder farblich noch durch übertriebene Dramatik. Sie bleiben charmante Vortänzer und spleenige Opfer der Dinge und verschwinden auch gerne in den Klappen, Ritzen und Zelten, die sich im Bühnenbau auftun... Die Leichtigkeit des Spiels, die skurrilen Überraschungsmomente und die vertrackte Mischung aus freundlicher Naivität und Raffinesse, mit der hier ein Kunstuniversum behauptet wird, sorgen für ein sanftes Entgleiten und nicht unangenehme Zustände der Regression. Abgesehen davon kann man nach dem Theaterbesuch seine Küche nicht mehr ohne absonderliche Gedankengänge betreten.

Ekkehard Knörer / Jump Cut Magazin

…stets ist das Timing perfekt, sind die absurd-komischen Akzente präzis gesetzt, treffen Regie und Darsteller punktgenau die Linie zwischen Wiedererkennbarkeit und Überzeichnung, die es zu treffen gilt, will man weder in bloße Satire noch in bloßen Nonsens abdriften. Lilli in Puttgarden ist klug, unprätentiös und komisch, mit einem Wort: die reine Freude…

Ekkehard Knörer / Jump Cut Magazin

Von der ersten Sekunde an hat diese Performance eine Form: somnambul schon treten die Darsteller auf die Bühne, somnambul bleiben sie, auch dann noch, wenn sie die verschiedensten Stadien der Hysterie und der Verzückung durchlaufen. Die Gesichter sind zu Masken geschminkt, die Frisuren festgegelt in einen Zustand stürmischer Zerzaustheit. Es gibt Typen, aber keine Figuren, wiederkehrende Verhaltensweisen, aber keine Charaktere, Texte, aber keine Dialoge und Interaktionen, aber keine Handlung. Das elegant designte, in schlichtem creme gehaltene Bühnenbild ist selbst noch einmal Verdopplung einer Bühne, aber auch und vor allem eine Wundertüte, die sich öffnet, aus der die Darsteller steigen, aber auch jene Gegenstände entnommen werden, die ganz fraglos im Zentrum dieser Aufführung stehen. Vorgeführt wird, liebevoll, enthusiastisch und erfindungsreich, eine Welt der entzauberten Alttags-Dinge, die, auf ironische Weise, versteht sich, wieder verzaubert werden sollen. Es sind, das kommt einer solchen Absicht zu Hilfe, Dinge nicht aus unserer Gegenwart, sondern aus den siebziger Jahren, wie man sie bereits in den retro-regressiv gestimmten Installationen der letzten beiden Berlin-Biennalen bewundern konnte. Scheußliche Gerätschaften, die man liebt, gerade weil sie so unprätentiös hässlich sind: Staubsauger, Glastragekörbe aus Plastik, ein aufblasbares Kissen, Taschen, Pullover, Teppichreiniger, Teetassen und vieles mehr. All das ist freigegeben zur Adoration zum einen, zum anderen und zugleich aber zum kreativen, aus allem haushaltspraktischen Zusammenhang gerissenen, in höchst komische neue Kontexte versetzten Spiel. Alle Verwendung ist Zitat: verfälschendes, groteskes, ironisierendes, an den ursprünglichen Zusammenhang angelehntes Zitat. Mal sanfter, mal lauter, mal durchsichtiger, mal absurd kommentiert wird dieses fortgesetzte, zu einzelnen Nummern geschnittene Dauerzitat, dieses laufende Band der Konsumartikel, durch einen nahtlosen Musikteppich. Der setzt allerdings bewusst einen Gegenakzent zur Warenwelt, genauso wie die Darsteller, deren somnambules Agieren, deren Maskenhaftigkeit noch jede ihrer Verhaltensweisen zum bloß Zitathaften konterkarieren. Was Nico and the Navigators auf der Grundlage dieses Prinzips aber auf die Bühne zaubern, ist in erster Linie eines: herrliche, ins Groteske vernarrte, umwerfende Comedy. Sei es die laute und wortreiche Anpreisung eines Kleiderbügels, sei es das Minidramolett um ein gestohlenes Fahrrad mit Luftkissenschlacht oder eine Teebeutelverkaufsvorführung, die in Chaos und Zerstörung endet: stets ist das Timing perfekt, sind die absurd-komischen Akzente präzis gesetzt, treffen Regie und Darsteller punktgenau die Linie zwischen Wiedererkennbarkeit und Überzeichnung, die es zu treffen gilt, will man weder in bloße Satire noch in bloßen Nonsens abdriften. Lilli in Puttgarden ist klug, unprätentiös und komisch, mit einem Wort: die reine Freude.

Eine Produktion von NICO AND THE NAVIGATORS und den Sophiensælen, gefördert von der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, der Stiftung Kulturfonds, in Koproduktion mit dem FFT Düsseldorf, sowie dem Grand Theatre Groningen, in Kooperation mit der Stiftung BAUHAUS Dessau.

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