Ich war auch schon einmal in Amerika

EIN AUGENZEUGENBERICHT

Dessau 1998: Unbefangen und mit offenem Sinn ließen wir Zuschauer uns in einem amerikanisch orangen Schulbus an Walter Gropius’ Bauhaus einsammeln und zum alten Arbeitsamt des selbigen Architekten kutschieren – die Distanz betrug einen knappen Kilometer. Derart eingestimmt düsten wir ab in die Welt des ersten Navigator-Stücks Ich war auch schon einmal in Amerika. Selbst der Busfahrer war angehalten worden, seinen neu erstandenen Oldtimer sehr, sehr langsam zu fahren. Die Folge war ein Motorschaden. Trotzdem angekommen, versammelten wir uns im Kern dieses Gebäudes, wo es bald darauf im Stück hieß: „Falls du zu spät kommst, halte ich dir mit der Ei-Stulle den Platz frei.“

Da war eine Frau, die sich zehn Minuten lang wie eine Schnecke von links nach rechts über den Boden schob, zusammengekrümmt mit zu Schnecken gedrehten Zöpfen, ein Megafon beflüsternd. Ab und zu, da war sie ja wieder, hatte man sie vergessen – aber räumlich, ganz sicher, muss sie vorangekommen sein. Und dann Martins Augenbraue, ein Zucken nur, sie ließ uns Kinder werden. Minimal Art mit Ausdruck. In absoluter Reinform zeigte sich eine sorgfältige Sprache von ungeheuerlicher Kraft. Den Atem beengt, zögerten sich, in unerträglicher Zeitlupe, einzelne Körperteile, an einen neuen Platz. Der Arm kannte das Bein nicht mehr. Jede Extremität spielte Selbständigkeit und tastete oder lotete ihren eigenen Raum aus. Mal zögerlich, mal in größtmöglicher Reichweite. Der Körper bekam von alldem nichts mit, selbst wenn er am Arm zu baumeln schien und nicht andersherum, wie es sich gehört. Der Mensch, bei dem sich all das ereignete, wollte unbeteiligt erscheinen, obwohl sein Geist merklich lenkte. Der Blick jedenfalls täuschte Unbeteiligt-Sein am besten vor. Es ist tragisch, saukomisch und Nicos voller Ernst. Dabei gibt es diese Haltungen nicht. Komplett unwirklich. Aber wir erkennen sie wieder – ganz genau. Absurde, radikale Poesie. 

Rührend stolperten die ersten Navigators in die Welt hinein, entschieden und verloren zwischen Ersatzsehnsucht und falschem Spiel. Hier steckte alle Herrlichkeit des Menschen in einem Gänseblümchen. Das hatte ich noch nie erlebt: Noch weniger ist noch mehr? Wenn nichts geschieht, wird ein bisschen alles. Ich sah Amerika. 

PS: Dank dieser Theatersprache hasten die Navigators nun unaufhörlich durch ganz Europa und tippen Menschen an. Inzwischen sind sie davongeeilt, reift ein Meisterwerk nach dem anderen. Nicola Hümpel ist in ihrer klassischen Phase. Aber es ist doch so: Wenn man den „Urfaust“ liest und danach den „Faust“ – der „Urfaust“ ist einfach das geilere Stück!

BERTRAND FREIESLEBEN

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Termine

Eine Produktion von Nico and the Navigators, gefördert von der Stiftung Kulturfonds Berlin und der Stiftung Bauhaus Dessau. Uraufführung: 24. April 1998 im Arbeitsamt von Walter Gropius, Dessau

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