Szenisches Kammerkonzert: Im Dialog mit drei Musikern suchen der Countertenor Terry Wey und die Tänzerin Yui Kawaguchi den Geist Johann Sebastian Bachs.
Mit dem inszenierten Kammerkonzert „Cantatatanz“ nähern sich Nico and the Navigators der Musik von Johann Sebastian Bach. In diesem zweiten, kleineren Projekt der Reihe „KlangZuGang“, untersuchen Nicola Humpel und die Navigators die sakrale Musik in szenischen Bildern.
In den Arien des Leipziger Thomaskantors erforschen sie die Bildsprache barocker Frömmigkeit in Verbindung mit heutiger Jenseits-Sehnsucht und suchen dabei nach zeitlosen Übersetzungen für Bachs Vokal- und Instrumentalwerke. Die Instrumentalisten Mayumi Hirasaki (Violine), Jakob David Rattinger (Viola da Gamba) und Eugène Michelangeli (Cembalo, Orgel) werden dabei direkt in das Spiel des Countertenors Terry Wey und der Tänzerin Yui Kawaguchi einbezogen. Als Kontrastmittel zu Bach dienen Werke von Marin Marais, die gegen die Demut des deutschen Protestanten mit Lebenslust und Daseins-Willen Sturm laufen.
Im Zentrum des Geschehens, dem Oliver Proske einen sinnstiftenden Raum-Rahmen gibt, steht freilich Bach. In und mit seiner Musik kann man erfahren, warum das Fehlen von Pedalen am Cembalo durchaus erotische Optionen eröffnet, wo die menschliche Stimme ihren Sitz hat und was eine Pfeffermühle mit Pfingsten verbindet. Die harten Galeerenbänke im Kirchenschiff verwandeln sich dabei in die Säulen einer mächtigen Kathedrale während zarte Klänge mit einem Orgelgewitter wechseln.
„‚Cantatatanz’“ ist eine sinnlich-erotisierende Darstellung sakraler Bachscher Musik, mit der die Berliner Theatercompagnie ‚Nico and the Navigators‘ (Regie und Konzept: Nicola Hümpel) ihre Deutungshoheit zu, mit und über Bach in Anspruch nimmt, ohne dabei die musikalische Aussage, die klangliche und künstlerische Schönheit Bachscher Musik je infrage zu stellen.“
Die Christuskirche in Wittenberg ist sowohl äußerlich als auch von innen her keine Schönheit. Aber man kann sie auch akustisch nutzen für Konzertereignisse besonderer Art, wie am Samstag mit „Cantatatanz“ im Rahmen des Internationalen Musikfestivals „Himmel auf Erden“ in Wittenberg geschehen. „Cantatatanz“ ist eine sinnlich-erotisierende Darstellung sakraler Bachscher Musik, mit der die Berliner Theatercompagnie „Nico and the Navigators“ (Regie und Konzept: Nicola Hümpel) ihre Deutungshoheit zu, mit und über Bach in Anspruch nimmt, ohne dabei die musikalische Aussage, die klangliche und künstlerische Schönheit Bachscher Musik je infrage zu stellen. Grandiose Tänzerin Denn für das musikalische Sujet sorgte ein wunderbares Barock-Ensemble (Mayumi Hirasaki, Violine, Jakob David Rattinger, Viola da Gamba, Eugène Michelangeli, Orgel und Cembalo) zusammen mit dem Countertenor Terry Wey, dessen Stimme allein schon betörte. Wey und die Tänzerin Yui Kawaguchi bildeten hier das gestische Zentrum der Aus- und Umdeutung der Texte, die dadurch vielleicht die Ernsthaftigkeit ihrer Aussage, nicht jedoch die musikalische Botschaft in Zweifel zogen. Das Zentrum der Bühne bildete der podestartig erhöhte Altarraum, auf dem vier Kirchenbänke drapiert waren, die situativ in ihrer Anordnung variierten. Insgesamt einbezogen wurden Empore sowie Mittel- und Seitengänge des Kirchenschiffs. Hier wirkte vornehmlich Yui Kawaguchi, eine tänzerische Schönheit, teils flatternd, den erotisierenden Illustrationen immer gefällig, wie ein Schmetterling. Liebreizende Verführungsandeutungen ergänzten das Szenario. „Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh“ (aus BWV 508), begann geheimnisvoll Terry Wey zusammen mit Kawaguchi wie eine Liebeserklärung an Anna Magdalena. Dabei drückten die tänzerischen Berührungen, die Hände eine Sinnlichkeit aus, die Bachs innige Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau Anna Magdalena beschreiben könnte. Der Gesang hatte da eine himmlische Attitüde. Stimmliche Exzellenz Kesse Flirts zeigten sie dagegen bei „Widerstehe doch der Sünde, sonst ergreife dich ihr Gift“, bei der Terry Wey aus der Okuli-Kantate seine stimmliche Exzellenz einmal mehr präsentierte. Das Zusammentreffen dieser Truppe mit der himmlischen Schönheit dieses beinahe überirdisch wirkenden Countertenors war ein Hochgenuss. Das vergnügliche Glucksen des Publikums angesichts dieser unbeschwerten Spiritualität, die dem Text ein anderes Kontra gab, ließ sich nicht vermeiden - und sollte es ja auch nicht. Herrlich dann die szenische Darstellung von teils rüpelhaften, desinteressierten Zuhörern bei der Darbietung einer von Mayumi Hirasaki eindringlich gespielten Violin-Chaconne. Ein herrliches Spiegelbild von Zuhörern, wie sie kollektive Ignoranz zur Schau stellen können. Bei den Goldbergvariationen zeigte Yui Kawaguchi in ihrem Tanz nicht nur akrobatische Rafinesse, als sie unter dem Cembalo galant ankommend dem Cembalisten Michelangeli mit ihren Füßen filigran die Schnürsenkel des rechten Schuhes öffnete, um dann den Fuß zu „entkleiden“ und in Harmonie ein Tête-à-tête für drei Füße zu entfesseln, wohlgemerkt - während des Cembalospiels. Das „Füßeln“ kennt man doch irgendwie. Wunderschön war auch das Lamento „Ach dass ich Wassers g’nug hätte“ von Johann Christoph Bach, das entwaffnend mit einem markig-durchdringenden Schrei Michelangelis den Zuschauer aus seinem verträumten Dösen aufschreckte, so als wollte er sagen: „Junge, es ist genug“! Schwebende Bänke Nicht unerwähnt sein darf die brillante Ausleuchtung der Szenerie (Ingo Nieländer, Fabian Bleisch), die dem Ganzen eine Transzendenz von der Breite in eine unendliche Höhe verlieh: Die Kirchenbänke schwebten nacheinander förmlich von der Horizontalen in eine säulenartige Vertikale, in ihrer Leichtigkeit verschiebbar, als wollten sie eine Deutung im Unendlichen aufzeigen. Sehr gut gelungen, leider vor wenig Publikum. Erhard Hellwig-Kühn, 10.07.2012
„In ‚Cantatatanz‘ zeigt sich Johann Sebastian Bach auf eindrucksvolle Art berührbar.“
Im Alter von sechs Jahren sah Yui Kawaguchi „Giselle“ und war so berührt, dass sie selbst Ballerina werden wollte. In ihrer Heimat Japan bedeutete dies einen Spagat zwischen Kulturen. Heute lebt die Tänzerin in Berlin und weiß, wie man Grenzen überwindet. Stuttgart - „Die Musik von Johann Sebastian Bach hab’ ich hier anders gehört als in Japan“, sagt Yui Kawaguchi. Alle Töne Bachs fänden Platz in dieser Landschaft, zeichnet die japanische Tänzerin und Choreografin ein Bild. Auch Musik Mozarts und Händels hat sie schon „vertanzt“, Händel dabei „wie Popmusik“ erlebt. „Bachs Musik dagegen empfinde ich als heilig, aber anders als in Japan ist seine Musik hier nicht unberührbar“, sagt Yui Kawaguchi. Wie berührbar sogar „Das Wohltemperierte Klavier“ ist, eine Sammlung von Fugen und Präludien, erlebten begeisterte Zuschauer bei der Breakdance-Show „Flying Bach“ in Ludwigsburg und Stuttgart. Yui Kawaguchi, ausgebildete klassische Tänzerin, übernahm bei der Show in Ludwigsburg den Part der klassischen Tänzerin – sehr streng, sehr schön. Auch in „Cantatatanz“ – als Aufführungsorte dienen immer Kirchen – zeigt sich Johann Sebastian Bach auf eindrucksvolle Art berührbar; seine Musik fügt sich durch Countertenor Terry Wey, Instrumentalisten und die Tänzerin Yui Kawaguchi zu einem inszenierten Kammerkonzert. Die Produktion von Nico and the Navigators entstand mit dem Berliner Kulturzentrum Radialsystem. In Berlin lebt die gebürtige Tokioerin, seit sie 2001 mit der Produktion „cell166 b“ im Kulturzentrum Tacheles gastierte. Tanz in Japan und in Deutschland: Das sind zwei verschiedene Welten „Zuerst fühlte ich mich hier fremd auf der Bühne“, erinnert sich die Tänzerin. Sie dachte, die Zuschauer in Deutschland verständen sie nicht. Tanz in Japan und Deutschland, das sind zwei Welten. Inzwischen ist die 2010 mit dem Kölner Tanztheaterpreis ausgezeichnete Japanerin nicht nur auf Deutschlands Bühne heimisch. Sie gastierte in Amerika, in Kanada, Russland, der Ukraine, Polen, Luxemburg, Österreich und regelmäßig in Japan. In Korea war eine ihrer Choreografien zu sehen. Yui Kawaguchi arbeitete bisher mit Ismael Ivo, Helena Waldmann, Tomi Paasonen, Nir de Volff zusammen und ging mit den Flying Steps auf Welttournee. Für die Produktion „Red Bull Flying Bach“ bekam das Ensemble 2011 den Echo-Klassik-Sonderpreis. Im Alter von sechs Jahren sah Yui Kawaguchi in Japan das Ballett „Giselle“. Die Titelrolle tanzte Yoko Morishita an der Seite von Rudolf Nurejew. Yui war berührt. „Ich konnte diese Körpersprache verstehen, es war phänomenal, und ich dachte, wenn das Ballett ist, will ich Ballett machen.“ Was sie bald erlebte, war die Kluft zwischen europäischer Kultur und japanischem Alltag. „Wir haben zu Hause sehr japanisch gelebt, auf dem Futon geschlafen und auf niedrigen Tischen auf dem Boden gegessen“, sagt sie. Bewegungen waren eher vertikal ausgerichtet, im Ballettunterricht aber ging es in die Horizontale. „Ich brachte meine Tanzlust mit dem Alltag nicht zusammen, es war verwirrend für mich“, so Yui Kawaguchi. Doch schon damals dominierten zwei Pole in Japan: tradierte Formen wie das No-Theater und die Popkultur. „Mit 12, 13 brauchte ich etwas anderes zum Tanzen, ich begann mit Hip-Hop und lernte, auch für Gruppen zu choreografieren“, sagt die Tänzerin. Zwischen Jazz und Ausdruckstanz Wer sie heute erlebt, nimmt ihre Stilvielfalt wahr. Zum Beispiel in der Reihe „Stadt im Klavier“, die sie gemeinsam mit der Jazz-Pianistin Aki Takase inszenierte. Es sind utopische Städte, die die Künstlerinnen im Dialog von Tanz und Musik entwickeln. Mal unter dem Titel „Cadenza“, mal als „Chaconne“ (mit der bildenden Künstlerin Kazue Taguchi). Mit „Cadenza – Die Stadt im Klavier V“ gastierten Kawaguchi und Takase in diesem Jahr bei den Jazztagen im Stuttgarter Theaterhaus. „Aki kann mir mit ihren Klängen Landschaften geben, das ist für eine Tänzerin Luxus“, sagt Yui Kawaguchi, die nun in einem Solo beim Tanzfestival Karlsruhe zu erleben sein wird. „Match-Atria“ heißt die Produktion, an der auch der japanische Filmemacher Yoshimasa Ishibashi und der 3-D-Spezialist Masahiro Teraoka beteiligt sind. Der Zuschauer trägt Kopfhörer und 3-D-Brille und hält ein aus Plastilin gefertigtes Kunstherz in der Hand – das Herz der Tänzerin. Während Kawaguchi tanzt, pulsiert ihr Herz in den Händen der Zuschauer. Ein 3-D-Bild zeigt: Sie tanzt mitten in ihrem Herzen, in einer Landschaft mit einem Strom aus Hämoglobin. „Hier habe ich mein Ich gefunden“ Die Idee zu diesem fühlbaren Theater hatte die Japanerin Rieko Suzuki. „Was wir in ‚Match-Atria‘ machen, ist typisch japanisch“, sagt Yui Kawaguchi. Technik wird organisch präsentiert; die Grenze zwischen Natur und Technik verwischt. „Ich glaube, das hat was mit unserer Religion, dem Schintoismus zu tun“, lächelt Yui Kawaguchi. Die Kontraste zwischen Japan und Europa erlebt sie schon einige Jahre nicht mehr so stark. „Meine japanische Familie sagt, ich tanze anders als früher, meine Bewegungen sind weicher, kontinuierlicher geworden“, sagt Yui Kawaguchi. Und fügt hinzu: „Hier habe ich mein Ich gefunden, in meinem Leben wird nicht mehr entschieden, ich entscheide.“
„Die japanische Tänzerin Yui Kawaguchi tritt zunächst verhüllt, fast wie unter einer Burka, in den Altarraum, während Countertenor Terry Wey sein ‚Bist Du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.‘ (BWV 508) anstimmt. … Dieses Experiment, Bachs ‚asketische Schlichtheit‘ und ‚mathematische Klarheit‘ hat seinen ästhetischen Reiz … Untersuchungsmaterial für Soziologen, Kultur- und Religionswissenschaftler, die sich in ein paar Jahren intensiver damit befassen könnten, was diese geballte Auseinandersetzung mit den letzten Dingen über eine Gesellschaft aussagt, die zwischen Griechenland-Hilfspaketen und Anschlägen auf Flüchtlingsheime ganz offensichtlich darum ringt, neuen Halt zu finden?“
Kulturstreifzug Die Kolumne berichtet über zwei "Tanz im August" -Gastspiele, "Cantatatanz" in der Zionskirche, die Eröffnungs-Premiere "Nathan der Weise" am DT und Wannsee-Lesungen. Voronia: Bei Tanz im August wird erst mal durchgesaugt In dieser Woche dominierte der Tanz auf den Berliner Spielplänen. Auf der Zielgeraden des Festivals „Tanz im August“ waren zwei Gastspiele von klangvollen Namen zu erleben. Voronia der katalanischen Gruppe La Veronal in der Schaubühne enttäuschte jedoch komplett. André Sokolowski (Kultura-extra) ärgerte sich über apokalyptischen Kunsthonig, Frank Schmid versuchte dem Jammertal in seiner kulturradio-Rezension noch etwas abzugewinnen, musste aber auch das bittere Fazit ziehen, dass dieser Abend in „pathosgetränkten Mummenschanz“ kippt. Während das Publikum Platz nimmt, sind die Ensemblemitglieder aus Barcelona auf der Bühne damit beschäftigt, zum Spielzeitauftakt noch mal richtig durchzuwischen: in weißer Anstaltskleidung gehen sie mit Staubsauger, Lappen und Wischmop gründlich zu Werke. Am besten hätten sie es dabei belassen, in den kommenden siebzig Minuten folgt nur ein lieblos aneinandergeklatschtes Sammelsurium aus verrätselten Motiven der Kunst- und Religionsgeschichte. Der Abend verliert sich zwischen einem Fahrstuhl zur Hölle, einer leeren Tafel, einer Eisbärenmaske, einem kleinen Jungen, einem Lamm und dem Kurzauftritt von vier nackten Männern, die verzweifelt gegen die Wand hämmern, in Belanglosigkeit. Das Ganze ist von bombastischen Opernklängen unterlegt, die Tänzer winden sich schmerzverzerrt in Verrenkungen. Erstaunlich, dass nicht noch wesentlich mehr Besucher vorzeitig gingen. Die Vorschusslorbeeren waren groß, bei „Tanz im August“ 2014 galt die Gruppe „La Veronal“ mit ihrem Vorgängerstück Siena als Überraschungs-Hit des Festivals. Ihr neuer Auftritt ist jedoch gründlich misslungen. Bul-ssang: Buntes Tanz-Gastspiel aus Südkorea Stimmiger war das Gastspiel der Korea National Contemporay Dance Company in der Volksbühne: „Bul-ssang“ von Anh Aesson stammt aus dem Jahr 2009 und ist ein bonbonbunter Mix, der Tradition und Moderne aufeinderprallen lässt. Zu den coolen Beats von DJ Soulscape (am rechten Bühnenrand) tänzeln und springen die fünfzehn Artisten durch einen Parcours aus Buddha-Statuen und Konsumtempeln. Der Versuch, die Zerrissenheit des asiatischen Landes zwischen dem Bewahren traditioneller Werte und Gangnam Style-Turbo-Beschleunigung zu zeigen, kommt phasenweise etwas platt daher. Dennoch ist Ahn Aesson und ihrem quirligen Ensemble zugutezuhalten, dass sie aus ihrer Grund-Idee eine schlüssige und auch unterhaltsam anzusehende Choreographie entwickeln. Für mehr als 60 Minuten hätte ihr Konzept aber kaum getragen. Cantatatanz: Bach mit Tänzerin im Zionskirchenschiff Einen deutlichen Kontrast zu diesem südkoreanischen Gastspiel setzte die Gruppe Nico and the Navigators mit der Wiederaufnahme von Cantatatanz (aus dem Jahr 2011) in der Zionskirche. In dem sakralen Raum herrschen an diesem Abend protestantische, karge Strenge und der Weltschmerz von Johann Sebastian Bachs Kantaten. Die japanische Tänzerin Yui Kawaguchi tritt zunächst verhüllt, fast wie unter einer Burka, in den Altarraum, während Countertenor Terry Wey sein „Bist Du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.“ (BWV 508) anstimmt. Beide umkreisen sich in den nächsten knapp 75 Minuten, nehmen sich nach und nach mehr Raum und navigieren durch das gesamte Kirchenschiff, so dass die Besucher auf den vorderen Plätzen die Wahl haben, sich die Hälse zu verdrehen oder über weite Strecken nur die Musik ohne die szenischen Bilder auf sich wirken zu lassen. Dieses Experiment, Bachs „asketische Schlichtheit“ und „mathematische Klarheit“ („Nico and the Navigators“-Gründerin Nicola Hümpel in einem Interview mit dem Stadtmagazin tip) hat seinen ästhetischen Reiz. Gegen Ende hätte dem Stück aber noch ein stärkerer Regiezugriff gutgetan, da sich einige Längen eingeschlichen haben. Womit haben wir es bei diesem Aufeinanderprallen von Tanz und christlicher Barockmusik im religiösen Raum zu tun? Hümpel grenzt sich in dem besagten Interview ab: „Nein, denn wir sind ja nicht Tanz. Wir waren immer: weder noch. Musiktheater sind wir in einem gewissen, noch nicht festgelegten Sinne. Bildertheater sind wir inzwischen auch nicht mehr, denn das finden wir bäh!“ Konsequenterweise war dieser Abend auch kein Bestandteil des „Tanz im August“-Festivals, sondern stand ganz für sich in der Berliner Kulturszene, gefördert von Bundes- und Landesmitteln. Thematisch dockt Cantatatanz mit seinen Fragen nach dem Sterben, dem Jenseits und der Religion allerdings genau an das Spielzeit-Motto „Der leere Himmel“ des Deutschen Theaters Berlin an, das Intendant Ulrich Khuon bei der „Früh-Stücke“-Matinee mit seinen Regisseuren, Dramaturginnen und Schauspielern vorstellte. Ein Zufall der Spielplan-Gestaltung? Oder Untersuchungsmaterial für Soziologen, Kultur- und Religionswissenschaftler, die sich in ein paar Jahren intensiver damit befassen könnten, was diese geballte Auseinandersetzung mit den letzten Dingen über eine Gesellschaft aussagt, die zwischen Griechenland-Hilfspaketen und Anschlägen auf Flüchtlingsheime ganz offensichtlich darum ringt, neuen Halt zu finden? Andreas Kriegenburg lässt Lessings „Nathan der Weise“ zur DT-Spielzeiteröffnung in Lehm und Kalauern versinken Bei der Spielzeit-Eröffnungs-Inszenierung Nathan der Weise war von einer ernsten Auseinandersetzung mit den großen Themen, die dieser Spielzeit programmatisch vorangestellt wurden, kaum noch etwas zu erkennen. Andreas Kriegenburg lässt sein Ensemble (darunter vor allem seine bewährten Stammkräfte Elias Arens, Jörg Pose und Natali Seelig) drei Stunden lang im Buster Keaton-Stil über die Bühne watscheln und Klassiker-Text viel zu schnell herunterleiern. Als „archaischen Comic“ hat das Programmheft die Inszenierung angekündigt. Heraus kam ein Abend mit lehmbeschmierten, bedauernswerten Figuren, der nicht mal halb so komisch war, wie er gerne gewesen wäre. Die Ringparabel, die Jörg Pose ausnahmsweise nicht veralberte, wirkte hier so deplatziert wie auf einem Kindergeburtstag, an den sich die SZ erinnert fühlte. Nach der Pause wurde es nicht wesentlich besser, die Reihen hatten sich mittlerweile deutlich gelichtet. Auf der Bühne wurde munter weiter gewitzelt, getrippelt und gewatschelt, untermalt von einem Klangbrei aus Zwanziger-Jahre-Unterhaltungsmusik, nur kurz unterbrochen von gegenseitigen Ermahnungen der Schauspieler: „Lessing, biiiiiitttte!“ Zum Schlussapplaus hatten sie sich statt der großen Versöhnungs- und Umarmungsszene in Lessings Original noch einen weiteren Gag einfallen lassen: einer nach dem anderen kam – wie könnte es anders sein natürlich wieder im Watschelgang – nach vorne und starrte skeptisch, die Hand aufs Kinn gestützt, ins Publikum. Dass viele im Publikum genauso ratlos und mit derselben Pose zurück guckten, war dann immerhin einer der wenigen lustigen Momente dieser Saison-Eröffnungs-Premiere, die viel Luft nach oben ließ, wie der Tagesspiegel zurecht schrieb. Rowohlt Geburtstag am Wannsee mit Titanic, Horst Evers, Herfried Münkler, Ulrich Matthes und Tschick Wer anschließend frische Luft brauchte, war bei perfektem Sommerwetter am Wannsee gut aufgehoben: Dort feierte der Rowohlt Berlin Verlag seine Party zum 25. Geburtstag in der Villa des Literarischen Colloquiums Berlin. Auf den engen Pfaden durch den Garten herrschte dichtes Gedränge, das Publikum pendelte zwischen der Terrasse und der Rotunde am See, wo die Aushängeschilder des Verlags Appetithäppchen aus ihren Neuerscheinungen lasen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler wandte sich in seinem Gespräch mit dem SZ-Redakteur Jens Bisky entschieden gegen einen zu idealistischen Blick auf die Welt: beispielsweise sei der ägyptische Präsident al-Sisi ein unverzichtbarer Stabilitätsanker im Krisenbogen zwischen Libyen und Syrien. Münkler wies die Kritik von NGOs, dass dem autoritären Herrscher im Mai beim Staatsbesuch in Berlin der rote Teppich ausgerollt wurde, zurück, und warnte davor, dass ohne sein Regime die Lage für Israel noch prekärer werden könnte. Biskys Fazit, dass seien keine besonders tröstlichen Aussichten, konterte Münkler mit seinem süffisanten Lächeln damit, dass er ja auch kein Pastor und Trost nicht seine Aufgabe sei. Wesentlich heiterer war die Stimmung erwartungsgemäß bei den Auftritten der Titanic-Chefredakteure Oliver Maria Schmidt und Martin Sonneborn und Jahresendzeit-Team-Miglied Horst Evers. Die beiden Satiriker lasen einige Kostproben aus ihrem demnächst erscheinenden Best-of-Band „Titanic Boygroup Greatest Hits – 20 Jahre Krawall für Deutschland“: als sie sich in den 90ern als Nachfolgepartei der NSDAP ausgaben und bei Schweizer Banken Zugriff auf alte Konten forderten; oder als sie den Twitter-Novizen Thorsten Schäfer-Gümbel mit einem Fake-Account parodierten und im hessischen Landtagswahlkampf für einige Verwirrung im Netz sorgten. Horst Evers brachte das Publikum anschließend mit einigen Kostproben seiner Kurzgeschichten über die Absurditäten des Alltags zum Lachen: er rechnete mit den Widrigkeiten einer Lesereise in die Wilstermarsch wegen einer überambitionierten Veranstalterin ab und ließ einen Mail-Dialog über eine Online-Massage in eine groteske Fantasy-Story über Gummibäume mit CIA-Spionageauftrag münden. Höhepunkt des langen Nachmittags und Abends war die Lesung einiger Passagen aus Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick von Ulrich Matthes. Für dieses Buch muss man wohl keine Werbung mehr machen: der lakonische Ton dieses Brandenburg-Trips von drei Pubertierenden voller skurriler Nebenfiguren schafft es auch beim Wiederlesen und -Hören, sein Publikum im einen Moment zu berühren und im nächsten zum Lachen zu bringen. Matthes berichtete, dass er sich, als das Buch erschien, bis tief in die Nacht festlas und dem Intendanten eine Lesung im Deutschen Theater Berlin vorschlug. Die Bühnenfassung mit Sven Fricke, Thorsten Hierse und Wiebke Mollenhauer entwickelte sich seit der Premiere 2011 zu einem Dauerbrenner, die nächsten Aufführungen in den Kammerspielen sind bereits wieder ausverkauft. Der Deutschen Bühnenverein teilte in einer Spielzeit-Bilanz mit, dass der Tschick sogar öfter als Goethes Faust gespielt wurde. Der Text ist zuerst hier erschienen: http://kulturblog.e-politik.de
…Die Navigators scheuen die mutige Auseinandersetzung mit der Rezeption des Altmeisters nicht… Mit einer großen Pfeffermühle und viel Tanz- und Spielfreude verleihen sie der schweren Kost eine ordentliche Portion Schärfe…
Munchs „Schrei“ ist wieder aufgetaucht. Für etwa zehn Sekunden ist er in der Zionskirche zu sehen. Terry Weys Gesicht nimmt einen schmerzverzerrten Ausdruck an, immer höher treibt der Countertenor seine Stimme, bis Yui Kawaguchi ihm ein Stück Papier in den Mund stopft und selbst zu einem stummen Schrei ansetzt, sich die Haare rauft und mit aufgerissenen Augen verharrt. So endet das Lamento „Ach, dass ich Wasser g’nug hätt“ von J. C. Bach, eine klagende Weise barocken Elends. Was hat die protestantische Demut Bachs mit der säkularisierten Moderne zu tun? Dieser Frage geht die Compagnie Nico and the Navigators in ihrem szenischen Konzert „Cantatatanz“ nach. Tänzerin Yui Kawaguchi interagiert mit den Musikern. Sie umschmeichelt den naiven Mönch Terry Wey der warnt: „Widerstehe doch der Sünde“ und der umherwirbelnden Shaolin-Tänzerin doch verfällt. Mit zackigen Gesten versucht sie, den Raum einzuteilen, aber scheitert daran, die Richtung zu weisen – barocke Ratlosigkeit. Die Navigators scheuen nicht die mutige Auseinandersetzung mit der Rezeption des Altmeisters: Als Violinistin Mayumi Hirasaki würdevoll zur Sonate bittet, reagieren die brav aufgereihten Zuhörer mit Ablehnung oder gespieltem Interesse. Kontrastiert mit fröhlicher Gamben-Tanzmusik (Jakob David Rattinger) vom Zeitgenossen Marais wirkt der Barocktitan gestelzt und überholt. Doch mit einer großen Pfeffermühle und viel Tanz- und Spielfreude verleihen die Navigators der schweren Kost eine ordentliche Portion Schärfe.
…Durch metaphorische Bilder, Slapstick und kleine Farcen haftete der Inszenierung ein Augenzwinkern an, das dem inszenierten Konzertabend eine enorme Lebendigkeit verlieh… Bachverständnis mit Tiefgang und Mut zur unkonventionellen Auseinandersetzung…
Die Berliner Company Nico and the Navigators tanzte in der Erfurter Predigerkirche im Rahmen der Thüringer Bachwochen zu Werken der Bachzeit. Erfurt. Mit Esprit und Elan widmeten sich "Nico and the Navigators" in einer Eigenproduktion der Thüringer Bachwochen am letzten Festivalwochenende Evergreens der Bachzeit. Das Berliner Theaterensemble gestaltete einen szenischen Konzertabend nach barocker Pasticcio-Praxis: Beliebte Arien und Instrumentalwerke des Festivalheiligen setzte Regisseurin Nicola Hümpel in Bilder von faszinierender Bannkraft. Wie ein Bettler schleppte sich die Tänzerin Yui Kawaguchi aus dem Lettner der Predigerkirche Erfurt die Treppen zur errichteten Bühne hinauf, um dort als verspielte Verführung die kontemplative Andacht eines mönchsartigen Countertenors und dreier Musiker zu stören. Die Bühne Oliver Proskes intensivierte mit Kirchenbänken, die als bewegliche Kulissen fungierten, die besondere Atmosphäre des Sakralbaus, wodurch der historische Entstehungskontext der Bach-Kantaten forciert und eine genaue Textlektüre eingeleitet wurde. Der Mönch (Terry Wey) hüllte seine Gottessuche in der Arie "Bist du bei mir" in weiche Sänfte. Entsprechend dem Arieninhalt entwickelte die Regisseurin dazu eine elegante Bewegungssprache der Hände, mit der die Tänzerin ihre verführenden Fäden zu spinnen begann. Der Countertenor konterte ihre Umgarnung mit der Arie "Widerstehe doch der Sünde", was Yui Kawaguchi in den Mittelgang des Kirchenschiffs vertrieb. Mit kessem Charme störte sie dann das Spiel des Gambisten Jakob David Rattinger, bevor sie sich am Cembalo entlang zu Eugène Michelangeli hangelte. Schließlich unterband ein Orgelinferno das sündige Treiben, und mit Bachs Chaconne, in einer tänzerischen Interpretation Mayumi Hirasakis, kehrte kontrapunktische Ordnung in der Predigerkirche ein. Stepp zur Musik des Gambisten Terry Wey versuchte bei wandelndem Mönchsgesang voll Zartheit seine "Vergnügte Ruh" wieder zu finden, doch die Tänzerin animierte den Gambisten zu einer populären Musik des Bachschen Zeitgenossen Marais, zu der sie mit Übermut steppte. Mit einer innigen Bachmeditation am Cembalo bekehrte Michelangeli schließlich die Tanzwütige zu Gottesfürchtigkeit. Die Regisseurin gewann der Bach-Studie daneben auch viele heitere Momente ab, in denen die harte Klavierschule der Pianisten und die Spitzentonsucht mancher Sänger karikiert wurden. Durch metaphorische Bilder, Slapstick und kleine Farcen haftete der Inszenierung ein Augenzwinkern an, das dem inszenierten Konzertabend eine enorme Lebendigkeit verlieh. An der Kanzel klangen dagegen pantomimisch auch kritische Töne an, die zum Beispiel Redeverbote hinterfragten. So beleuchtete Hümpel verschiedene Facetten des Bachschen Oeuvres und entwickelte daran eine spannende Konzert-Dramaturgie, in der die szenische Aktion fesselte, doch niemals die musikalische Qualität beeinträchtigte. Mit starker Mimik und bannender körperlicher Ausdrucksstärke verlieh Yui Kawaguchi der Produktion spielerische Frische. Bei ausgefeilter Lichtregie überzeugten die Musiker in den Arien mit schönster Affektausdeutung und reizvoller Dissonanzführung. Intensiv flehte Terry Wey in "Erbarme dich, mein Gott", wozu die Barockviolinisten instrumentale Seufzer intonierten - Bachverständnis mit Tiefgang und Mut zur unkonventionellen Auseinandersetzung.
…Wie man eine zeitgemäße Sicht auf das große Erbe Johann Sebastian Bachs gewinnen kann, zeigte das Ensemble Nico and the Navigators zum Abschluss der Thüringer Bachwochen im inszenierten Konzert „Cantatatanz“… Szenen, in denen Menschenkinder einander in der Musik zu Ehren Gottes entdecken…
Erfurt. Wenn sich das Göttliche in einer schier übermenschlichen Kunstanstrengung offenbart, dann ist dies in der Barockmusik zuverlässig mit einem Namen verbunden: Johann Sebastian Bach. Kein anderer Komponist hat so kühne und klare Klang-Architekturen mit innigsten Glaubenskenntnissen verbunden, kein zweiter sein Genie so sehr in den Dienst seines Gottes gestellt. Wie man eine zeitgemäße Sicht auf dieses große Erbe gewinnen kann, zeigte das Ensemble Nico and the Navigators nun zum Abschluss der Thüringer Bachwochen im inszenierten Konzert "Cantatatanz" - einem Passagenwerk zwischen ihrer halleschen Händelfest-Inszenierung von "Orlando" im vergangenen Jahr und Rossinis "Petite Messe solenelle" beim Kunstfest Weimar im kommenden September. Dass sich zumindest zwei der fünf Akteure Bach dabei von Händel her näherten, war zur Premiere in der Erfurter Predigerkirche noch erkennbar. Der Countertenor Terry Wey und die Tänzerin Yui Kawaguchi erprobten noch einmal jenes gestische Vokabular, mit dem die Gruppe um Regisseurin Nicola Hümpel auch schon in "Anaesthesia" ihren Klangzugang gesucht hatte: die Suche nach dem Sitz der Sinne, das Umflattern der Körper durch die Schmetterlinge der Seele, die koketten Barock-Affekte... Gemeinsam mit den drei Musikern Mayumi Hirasaki (Violine), Eugène Michelangeli (Orgel, Cembalo) und Jakob David Rattinger (Viola da Gamba) aber stießen sie auch in neue spirituelle Dimensionen vor, ohne die Texte offensiv zu illustrieren. Ein Clou war dabei das Bühnenbild von Oliver Proske: Alte Kirchenbänke konterten zunächst die Perspektive der Zuschauer-Gemeinde, nach und nach aber klappten die protestantisch harten Sitze aus der Waagerechten in die Senkrechte - und wurden zu Säulen, die man mühelos drehen und verschieben konnte. Sie geben den Darstellern eine Fülle von Spielanlässen - vom Streben nach dem Aufstieg zwischen zwei Seitenlehnen über die kollektive Ignoranz bei der berühmten Violin-Chaconne bis hin zum traumverlorenen Gleiten. Stärker als bisher wurden zudem die Musiker in das Spiel einbezogen: Wenn Rattinger einen Satz von Marin Marais streicht, der neben Bach-Sohn Johann Christoph als Kontrast-Lieferant gewählt worden ist, dann greift Michelangeli nach imaginären Tasten. Die japanische Geigerin bei einer Tee-Zeremonie vom stummen Sänger belauscht, der Cembalist spielt die Aria aus den Goldberg-Variationen auch auf den Füßen der Tänzerin - lauter Szenen, in denen Menschenkinder einander in der Musik zu Ehren Gottes entdecken. Den Rahmen für diese Miniaturen, in denen eine Pfeffermühle heiligen Geist spendet und ein feines Tuch wie Tränenstrom fließt, liefert aber eine seltsam doppeldeutige Arie: Denn das "Bist du bei mir" kann im Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach ja sowohl auf Gott als auch auf die Gattin gemünzt sein. Dies aber sind die Spielarten der Liebe, die schon Luther als die höchsten pries - aus dem 17. in das 21. Jahrhundert übersetzt. Ein umjubeltes Finale des Festivals, das mit einem Rekord von 14 800 Besuchern endete.
Cantatatanz ist eine Produktion von den Thüringer Bachwochen und Nico and the Navigators. Das Stück ist Teil der inszenierten Konzertreihe KlangZuGang, für die Nico and the Navigators im Rahmen einer dreijährigen Konzeptionsförderung durch den Fonds Darstellende Künste aus Mitteln des Bundes unterstützt wurden. Das Ensemble erhält zudem eine institutionelle Förderung des Landes Berlin. In Zusammenarbeit mit dem RADIALSYSTEM V.
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