Die Befristeten

Residenztheater München: Gemeinsam mit dem Komponisten Detlev Glanert erweitern Nico and the Navigators Elias Canettis Drama zu einem neuen Stück Musiktheater.

Was wäre, wenn wir von jeher wüssten, wie lange wir leben werden? Wie würden wir unsere Leben einteilen und gestalten – und wie unsere Beziehungen verändern?

In seinem Anfang der 50er Jahre entstandenen Gedankenspiel „Die Befristeten“ geht Elias Canetti diesen Fragen nach. Er führt eine Gesellschaft vor, in der die Namen der Menschen so lauten wie die Anzahl der Jahre, die sie leben werden. Eine zentrale Machtinstanz namens Kapselan kontrolliert und verwaltet das Sterben. Und die Menschen sind heiter – denn Gewissheit über den Tod bedeutet für sie auch ein Ende der Trauer. Nur ein Mann namens Fünfzig beginnt an diesem System zu zweifeln.

Seit der groben Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2003 scheint unsere Welt Canettis Dystopie einzuholen: Mittels Genanalyse können heute bereits 250 Erbkrankheits-Risiken erkannt und Lebenserwartungen eingeschätzt werden. Diese wissenschaftlichen Entwicklungen und ihre Anwendungen werfen ethische, politische und persönliche Fragen auf, die genau an jene anschließen, die Canettis Stück stellt. 

Gemeinsam mit dem Komponisten Detlev Glanert entsteht ein neues Stück Musiktheater.

Glanert zählt zu den prägenden und erfolgreichsten zeitgenössischen Vertretern seiner Zunft und hat zuletzt mit der Oper „Solaris“ (uraufgeführt bei den Bregenzer Festspielen) von sich reden gemacht.

Eine Produktion des Residenztheaters in Koproduktion mit der Münchener Biennale. In Kooperation mit Nico and the Navigators.

Kompositionsauftrag der Münchener Biennale und des Residenztheaters.

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Termine

Pressestimmen

Peter Jungblut / BR 2

…Nicola Hümpel hat dies mit viel Witz und Tempo auf die Bühne des Cuvilliéstheaters gebracht. […] Ein verdienter Uraufführungserfolg, der hoffentlich andernorts nachgespielt wird.

Peter Jungblut / BR 2

...Auch tags zuvor war der Tod Hauptthema bei der Biennale. Es ging um die Frage, ob fünfzig sichere Jahre oder 88 unsichere die bessere Lebensperspektive sind? Also eine Lebensgarantie oder das Risiko, täglich sterben zu können? Damit beschäftigte sich in den fünfziger Jahren Elias Canetti, als er sein Gedankenexperiment Die Befristeten schrieb. Das Thema ist unerwartet aktuell geworden. Inzwischen lässt sich die Lebenserwartung von Menschen dank der Gentechnik bekanntlich immer präziser vorhersagen, eine Tages vielleicht auf das Jahr genau. Schon jetzt können Interessierte ja verschiedene Tests absolvieren und ihr Krebs- und Alzheimerrisiko auswerten lassen. Der Komponist Detlev Glanert machte aus der Schauspielvorlage ein unterhaltsames wie düsteres Melodram, also ein Oper, in der nur gesprochen wird. Vor langer Zeit waren Melodrame mal in Mode, es war also ein Wagnis, diese vergessene musikalische Kunstform wieder zu beleben, und es hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. In den Befristeten heißen die Menschen so wie ihr programmiertes Alter, das sie allesamt an einer Halskette mit sich tragen. Die Glücklicheren dürfen sich also von Geburt an 88 nennen. Wer auf den Tag genau weiß, wie lange er noch zu leben hat, steht vielleicht vor einem Abgrund an Langeweile, verzweifelt am Restleben, oder er wird wegen seiner vielen Jahre für alle anderen zur Zumutung. Regisseurin und Ausstatterin Nicola Hümpel hat das mit viel Witz und Tempo auf die Bühne des Cuvillièstheaters gebracht. Am Ende stellen alle Beteiligten fest, dass ihr programmiertes Alter nur Schwindel war. Aber was folgt daraus? Eine Freiheit, mit der längst nicht alle umgehen wollen und könnnen. Über fast zwei Stunden hinweg fesselte dieses Melodram mit seiner zupackenden, oft ironischen, manchmal aggressiven Musik. Detlev Glanert gehört zu den begabtesten und theaterkundigsten Komponisten seiner Generation. Er schreibt immer dramatisch, also handlungsorientiert und hat in diesem Fall sogar hauptsächlich während der Proben komponiert und konnte somit auf alle Veränderungen reagieren. Ein verdienter Uraufführungserfolg, der hoffentlich anderswo nachgespielt wird. Insgesamt ist die Münchener Biennale für Neue Musik in diesem Jahr deutlich publikumsfreundlicher geworden – sie hat viel gewagt: Gewinnen ist in der Oper nicht notwendig.

Manfred Engelhardt / Augsburger Allgemeine

Nicola Hümpel schälte aus dem Canetti-Werk Situationen und Figuren heraus, passte sie dem Charakter der vom Residenztheater zu Verfügung gestellten fantastischen Schauspieler an und verdichtete dies zu effektvollen Szenen.

Manfred Engelhardt / Augsburger Allgemeine

Das Motto der 14. Münchener Biennale heißt „Außer Kontrolle“. Die jüngste Uraufführung verkörpert es perfekt, aber auch das genaue Gegenteil davon. „Die Befristeten“ nach Elias Canetti handelt von einer total kontrollierten Welt, andererseits haben Komponist Detlev Glanert und Nicola Hümpel (Konzept, Regie, Kostüme) einen riskanten Produktionsprozess hinter sich: Weder übte eine fertige Partitur die zeitlich unverrückbare Kontrolle über den Ablauf dieses „Musiktheaters“ aus, noch dienten die Noten der bloßen Untermalung eines logischen Librettos. Vielmehr entstand das im Cuvilliés-Theater umjubelte anarchische Bühnenstück über die Programmierbarkeit der Gesellschaft als „Work in Progress“. Nicola Hümpel schälte aus dem Canetti-Werk Situationen und Figuren heraus, passte sie dem Charakter der vom Residenztheater zu Verfügung gestellten fantastischen Schauspieler an und verdichtete dies zu effektvollen Szenen. Im ständigen Kontakt zu Komponist Detlev Glanert näherten sich die textlichen und musikalischen Vorgaben sukzessive an, man ließ sich wechselseitig inspirieren. Und Glanert reagierte flexibel immer wieder auf neue Ideen, Assoziationen. Die Menschen haben keine Namen mehr, nur noch Nummern Canetti schrieb „Die Befristeten“ 1952. NSA und die Entschlüsselung des Genoms waren noch in weiter Ferne, Orwell, Canetti, Hermann Kasack aber mit ihren ungemütlichen Visionen schon zur Stelle. In der Welt der „Befristeten“ gibt es keine Ungewissheit mehr über Verlauf und Dauer der Biografie, hat der Tod seinen Schrecken verloren. Im Leben auf dem Reißbrett haben die Menschen keine Namen mehr, sondern Nummern: 50, 88, 17 oder 30 bedeutet auch die zugeteilte Lebenszeit. Karrieren, Beziehungen, nicht zu vergessen Versicherungen und wirtschaftliche Schwerpunktsetzungen sind bei solchen Datenmengen besser plan- und optimierbar. Seinen Schrecken verloren…? Canetti selbst lässt sein Spiel mit dem Determinismus offen. Nicola Hümpel aber, die Originalpassagen mit eigenen Texten aktualisiert, radikalisiert, auch mit schwarz-kabarettistischen Reizen würzt, schlägt daraus Funken eines mal subtilen, mal schneidenden Horrors, und dies mit einer gehörigen Freude am prallen theatralischen Volleinsatz. Ihre „Brave New World“ gerät aus den Fugen: Weil alles determiniert ist, laufen urmenschliche Leidenschaften und Spontaneität ins Leere; das Personal zuckt nur noch in sinnlosen Verhaltensschablonen der alten „unwissenden“ Welt: Liebesschwüre, Freundschaftsgebärden, gesellschaftliche Rollen enden auf der trashigen Drehbühne im Kokon eines dichten Bodennebels. Zielrichtung unbekannt. Doch es war eine Gelegenheit für saftiges Schauspielertheater, gesungen à la Oper wird nicht. Ein toller musikalischer Streich Detlev Glanert (Jahrgang 1960), mit dessen Oper „Leyla und Medjnun“ die erste Münchner Biennale 1988 eröffnet wurde, steuert eine Musik bei, die die drastischen Aktionen mal dezent-lauernd begleitet, mal auflädt oder auch konterkariert. Das Ensemble piano possibile unter Heinz Friedl (Klarinetten, Saxofon, Klavier/Keyboard, Schlagwerk, Viola/Cello/Bass) realisiert diese Musik mit brillanter Präzision: Hinreißend süffige Walzer-, Polka-, Zirkus- oder Jazz-Anmutungen scheinen wie Déjà-vus aus der alten Welt das anarchische Geschehen auf eine bizarre Ebene zu heben, flirrend-duftige Motorik, wenige scharf gesetzte Explosionen landen punktgenau – ein toller musikalischer Streich.

Alexander Strauch / nmz - neue musikzeitung

Es wurde sagenhaft intensiv gespielt, unvergesslich die unzählbaren Heul- und Lacheinwürfe des in Frauenkostüm und Pumps gekleideten Philipp Caspari, die unglaublich heuchelnde Trauergemeinde mit den Damen Valerie Pachner, Marie Seiser und Michaela Steiger oder die asiatischen Körperbeugen von Yui Kawaguchi.

Alexander Strauch / nmz - neue musikzeitung

...An Detlev Glanerts Canetti-Musik zum durch Nicola Hümpel um gentechnische Lebensplanungsimplikationen aktualisierten Theaterstück „Die Befristeten“ nage ich jetzt noch. Es wurde sagenhaft intensiv gespielt, unvergesslich die unzählbaren Heul- und Lacheinwürfe des in Frauenkostüm und Pumps gekleideten Philipp Caspari, die unglaublich heuchelnde Trauergemeinde mit den Damen Valerie Pachner, Marie Seiser und Michaela Steiger oder die asiatischen Körperbeugen von Yui Kawaguchi. Inszenierung und Glanerts Partitur sind während des Probenprozesses in wechelseitiger Befruchtung entstanden. Das las sich als besonders für den Staatstheaterbetrieb, dürfte aber Kolleginnen und Kollegen, die für Film und freies Theater arbeiten alles andere als unbekannt sein. Hätte also „Biennale goes Freie Szene“ darüber stehen sollen? Eher nicht. Denn wie theatralisch schön war es, ein Stück der Biennale auf der Drehbühne des Cuvilliés-Theaters zu sehen. Nach all den akustisch in letzter Konsequenz unbefriedigenden Sälen wie Muffathalle, Carl-Orff-Saal und Reaktorhalle weiß man so ein richtiges Theater wieder zu schätzen. Es ging mit dem Drehen der Drehbühne los, die mit Töpferfrischhaltefolien bedeckt war und auf der sich wiederum ein bauchige Urmutter auf einer Töpferscheibe drehte. Das allein machte ein Geräusch, aus dem die Musik sich hätte entwickeln können. Glanerts Musik verband zwar auch Geräuschhaftes mit dezenten Revueklängen und Dolcissimo-Expressionismus-Glacée, wurde traumhaft schön durch das Ensemble pianopossibile eben pianopossibile gespielt und erinnerte doch an einen Soundtrack, der auch zu „Die Manns“ hätte erklingen können. Ich freue mich auf alle Fälle auf seine nächste Oper, wo wieder gesungen wird!...

C.M. Meier / Theaterkritiken München

Es war eine erlebenswerte anregende Inszenierung welche den Künstlern gelang, die die Vielfalt einer universellen Metapher umzusetzen verstanden. Das Konzept der achtsamen prozessbezogenen Zusammenarbeit ging auf und stand sinnbildlich für einen möglichen neuen Weg.

C.M. Meier / Theaterkritiken München

Von Verdun bis Auschwitz und Hiroshima breitete der Tod seinen Mantel über Menschen, etwa 90 Millionen wurden ihm in einer Zeitspanne von kaum 50 Jahren übergeben, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elias Canetti war Zeitzeuge dieser gewaltigen Massenvernichtungen und in seinen Werken finden sich Spuren der Auseinandersetzung, denen zu folgen den geistigen Horizont deutlich erweitern kann. In seinem, 1953 entstandenen Hörstück „Die Befristeten“ erzählt er von einer Gesellschaft, die sich in dem Wahn bestätigt, durch die Kenntnis der Lebensspanne zu mehr Sicherheit, Zufriedenheit und Kontrolle gelangt zu sein. Ein unübersehbar faschistoider Ansatz, der dem Zeitgeist entsprach auf den man sich in der nationalsozialistischen Idee geeinigt hatte, die das Leben anderer klassifizierte und nach Gutdünken damit verfuhr. Und dies, obwohl die ursprüngliche Idee zu dem Werk dem scheinbar simplen Vorgang des Lesens von Schicksal aus den Linien einer Hand entsprang. Die Nutzung von Anmaßung und Glauben sollte zur Vermittlung von Gewissheit dienen. „Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muss den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben.“ (Masse und Macht, E. Canetti) Die Angst des Menschen im Leben, um sein Leben ist allgegenwärtig und so umfassend, wie es wohl die Überforderung mit ebendiesem ist. In Bewegung hält den Vorgang der Begegnung mit der Existenzangst die Generierung von Macht und Unterdrückung. Hier treffen sich Individuum und Masse gleichermaßen. In einem Zeitalter, in dem durch die technischen Aufrüstungen die Vernichtung von allem Leben und dem gesamten Planeten Erde möglich ist, nimmt die Angst überproportionale Ausmaße an. Sie wird unterdrückt und ist doch spürbar allgegenwärtig. Ihre Pervertierung schleicht durch die Gesellschaft, wird stellenweise legitimiert. Auswirkungen finden sich im Versuch der wissenschaftlichen und erwerbbaren Körperperfektionierung ebenso, wie im „gewaltsamen“ Erhalt von Leben, dem die Freiheit zu altersbedingtem selbstbestimmtem Tod genommen wird. Macht über das Dasein zu erlangen – ein Traum des Individuums – der in der Bewegung der Masse immer entartet. Zur Biennale für neues Musiktheater griffen Regisseurin Nicola Hümpel und Komponist Detlev Glanert das Werk „Die Befristeten“ auf, um eine Inszenierung in der Sprache, Musik und Körper gleichermaßen Beachtung zukam, zu erarbeiten. Das Stück, eine Szenenfolge von alltäglichen Situationen, bietet neben den Grundproblemen auch eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die aktuell in der Gesellschaft diskutiert werden. Der Ausgangspunkt dazu ist der einzelne Mensch in seiner jeweils gegenwärtigen Verfassung, die an der Gewissheit seines Todestages festgemacht scheint. Der rational materielle Umgang mit dem Tod und der zur Verfügung stehenden Lebenszeit hat oberste Priorität, der alles untergeordnet wird. Ausbildung, Berufs- und Partnerwahl und letztlich der Fatalismus mit dem das Ende als schicksalsgegeben hingenommen wird. Diese Ordnung, der Gesellschaftsvertrag welcher vom Kapselan (Gottesebenbild bzw. gesetzlicher Ordnungsvertreter), aufrecht erhalten wird, gilt als unabänderlich und wird nicht in Frage gestellt. Die Masse beugt sich dem Gesetz solange, bis Einer es in Frage stellt. Durch den Widerspruch beginnt das System sich aufzulösen ... Auf einer Töpferscheibe in der Mitte der, von Oliver Proske gestalteten, Drehbühne stand eine üppige Venusfigur aus Ton, an welcher sich der Kapselan künstlerisch versuchte. Paul Wolff-Plottegg erforschte dazu auch seinen Körper, untersuchte seinen Arm mit genauem Blick, drehte sich sinnbildhaft um seine eigene Achse. Die Musik blieb eher im Hintergrund unterlegend, bisweilen wie im Film beiläufig und doch die Momente unterstreichend, welchen es galt nachzuspüren. Die Bühne begann sich zu drehen, die Zeit nahm ihren Lauf und der Prospekt kam ins Blickfeld. Yui Kawaguchi tanzte auf dem Haus, ihre Bewegungen zeugten von feinsinniger, geradezu perfekter Körperbeherrschung und akrobatischem Können. Damit kamen Schönheit und Verletzlichkeit ins Spiel. Aus dem Hintergrund erschien eine Gruppe, trat an Rampe und Michaela Steiger erklärte mit kraftvoller, keinen Widerspruch duldender Stimme, die gemeinsamen Glaubenssätze. Wolfram Rupperti, Marie Seiser, Tom Radisch und Philipp Caspari verkörperten Figuren dieser Welt, welche ihren Alltag ausbreiteten. Götz Schulte spielte anspruchsvoll, doch unaufdringlich den Verweigerer, dessen Überzeugung zu Freiheit führte. Bisweilen unterbrach vorsätzliche Komik, suchte Beifall im Publikum und löste sich auf im nächsten Bild. Einige Weiterführungen des Textes ins Heute wirkten langatmig und gewollt aufklärend, ganz wie im realen Raum zelebriert, lösten sich auf im nächsten Bild. Die Bühne, deren Boden Plastikreste und nicht Gras zierte, trug die Zeit voran - mal sehr langsam, mal kontinuierlich, mal schnell oder angehalten - Mauer und Häuser wechselten bis am Ende die Figuren durch die Öffnungen ins Freie getragen schienen. Was in der Gesellschaft fehlt, ist das natürliche Verhältnis zwischen Leben und Tod. Die Angst und die Verdrängung, Unterdrückung eben dieser Angst, lähmen Wandel, bzw. schränken den Erfahrungsraum drastisch ein und brachten neuzeitlich eine Art Android hervor, welcher voll mechanisch agiert und beispielsweise befristete Verträge für die Leistungsabgabe in Hamsterrädern erfüllt, um sich dabei geilzustressen, zu verschleißen und verkümmern, getrieben von dem vergeblichen Versuch Ängstlicher Macht unter Kontrolle zu halten und in Floskeln leere Geheimniskrämerei zu Recht zu fertigen. Ein ebenso industrieller Produktionsvorgang zur bloßen Selbstbestätigung der Kapselane – der Betreiber des Systems. Das Stück verdeutlichte damit zudem einen inneren Vorgang, wie er auch in den Gehirnen stattfindet. Die Amygdala, das Glückszentrum der Menschen verkümmert zu einer geschlossenen Kapsel, in der Einbildung einen körperlichen Zustand von Leben ersetzen soll, und, welches erst durch den Tod seine Bestätigung findet, wie es die Religionen preisen. Parallel dazu: Die dem Frontallappen durch das allgegenwärtige Brett vor dem Kopf übermittelten Botschaften leiten die Figuren. Das Öffnen der brettartigen Apparate ist verboten (das Hinterfragen der Inhalte), denn diese sind leer, dienen sie doch nur der Übertragung willkürlicher beliebiger vorsätzlicher Wichtigkeiten. Dennoch scheint der Mensch ohne diese flachen „Kapseln“ hilflos und Chaos breitete sich aus, doch wäre es das Chaos, welches eine Neuordnung erst ermöglichte. „Das Gefährlichste an der Technik ist, daß sie ablenkt von dem, was den Menschen wirklich ausmacht, von dem, was er wirklich braucht.“ E. Canetti. Die letzten Bilder der Inszenierung wirkten eindringlich und zeigten die Verlorenheit der Gestalten durch Erkenntnis und den damit einhergehenden Verlust der ehemals vereinbarten und akzeptierten Werte und Richtlinien. Valerie Pachner, mit Brille und Kostüm, stand dafür – ratlos, im Angesicht der Freiheit. Eine unmissverständliche Aufforderung zu Aufbruch in mehr Lebendigkeit wurde geboten und damit der Akzeptanz des Daseins per se, das durch Zusammenwirken, die Komposition klassischer und freier Elemente von Musik und Tanz, Schwingung und Bewegung der schöpferischen Kräfte getragen wird. Es war eine erlebenswerte anregende Inszenierung welche den Künstlern gelang, die die Vielfalt einer universellen Metapher umzusetzen verstanden. Das Konzept der achtsamen prozessbezogenen Zusammenarbeit ging auf und stand sinnbildlich für einen möglichen neuen Weg. Was kann ein Musktheaterstück mehr leisten? Um es mit Elias Canetti zu sagen: „Prinzip der Kunst: mehr wiederfinden als verloren gegangen ist.“

Robert Braunmüller / Abendzeitung

Hümpel charakterisiert ihre Figuren durch liebevoll-ironische Sprechmasken – am extremsten und auch lustigsten in einem unsentimentalen, sächselnden hässlichen Entlein von Frau. Gerahmt wird dies von sanft choreografierten, lebenden Bildern.

Robert Braunmüller / Abendzeitung

Eine moderne Oper ohne gesungenen Ton: „Die Befristeten“ von Nicola Hümpel und Detlev Glanert im Cuvilliés-Theater Als die Erde noch wüst und voller Plastiktüten war, schuf Gott aus Ton die Frau als mollige Steinzeit-Venus. Davon bekommt er Rippenschmerzen. 90 Minuten später ist der Mensch frei: Gott wirft den Ton weg, lässt seine Geschöpfe ihren Dreck alleine machen und beginnt eine Karriere als Penner. So leichtfüßig kann die Regisseurin Nicola Hümpel letzte Fragen auf die Bühne bringen. Sie hat für die Münchener Musiktheater-Biennale im Cuvilliés-Theater Elias Canettis „Die Befristeten“ inszeniert: ein Gedankenspiel über eine Welt, in der das Sterben durch ein sauberes, pünktlich stattfindendes Ritual ersetzt wurde, was eine Gesellschaft von Stadtneurotikern als humanen Fortschritt empfindet, bis es eine Figur radikal und befreiend in Frage stellt. Musik-Theater Auf den Kopf gestellt werden auch ein paar Grund-Spielregeln dieses Festivals: Die Musik von Detlev Glanert spielt nur die zweite Geige. Sie wurde auch nicht im obersten Stübchen eines Elfenbeinturms berechnet, sondern aus Improvisationen bei den Proben entwickelt. Niemand singt einen Ton – und so ist der Abend mehr Drama als Oper, und Formen des Musiktheaters zwischen Wittenbrink oder Marthaler näher als die üblichen Hervorbringungen der Biennale. Hümpel charakterisiert ihre Figuren durch liebevoll-ironische Sprechmasken – am extremsten und auch lustigsten in einem unsentimentalen, sächselnden hässlichen Entlein von Frau. Gerahmt wird dies von sanft choreografierten, lebenden Bildern. Glanerts Musik für die acht Instrumentalisten des Ensembles Piano Possibile hält sich, sofern sie nicht ein Tänzchen wagt, diskret und leise im Hintergrund. Aber sie ist mehr als Hintergrundmusik und vollendet die heitere Stilisierung, die Hümpel den trüben Gedanken Canettis angedeihen lässt. Die bis Anfang Juni im Repertoire des Resi verbleibende Aufführung hat nur einen Haken: Sie ist ein Viertelstündchen zu lang. Gewiss, man begegnet Gott, der zwischendurch als Priesterkönig der „Befristeten“ amtierte, noch einmal. Diese Rundung aber ist überflüssig: Der Freiheitszweifel der bebrillten Dame im Kostüm wäre das perfekte Fragezeichen zum Schluss gewesen.

Detlef Brandenburg / Die Deutsche Bühne

Dieser Abend hat […] als theatrales Gesamtereignis starke Momente. Das liegt vor allem an der theatralen Choreographie, die Hümpel auf Oliver Proskes mit Plastikfolien vermüllter, ewig rotierender Endzeitbühne entfaltet […] Wie da gesellschaftliche Einstellungen – Dünkel, Beflissenheit, Systemtreue, Verunsicherung, Aufbegehren, Neid, Schmeichelei – zu Körperhaltungen stilisiert werden, das ist stark: ein virtuoses Bewegungstheater, das Hümpel mit viel Gefühl für bildhafte Tableaus auf die Bühne stellt.

Detlef Brandenburg / Die Deutsche Bühne

„Außer Kontrolle“ lautet das Motto der Münchener Biennale 2014, der letzten unter der künstlerischen Leitung von Peter Ruzicka. Aber für die Uraufführungs-Folge von Dieter Schnebels „Utopien“ und Detlev Glanerts Musiktheater „Die Befristeten“ könnte das Thema „Utopie“ einen recht guten Untertitel abgeben. Darunter fallen ja nicht nur all jene Menschheitsträume von glücklichen Inseln und gesellschaftlichen Idealformen, die seit Thomas Morus‘ Initialwerk die Kulturgeschichte durchziehen, sondern auch die Schreckbilder einer inhumanen Zukunft von Samjatin, Bradbury, Orwell oder Hume. Auch Elias Canettis Drama „Die Befristeten“ ist eine solche „Dystopie“. An ihr entzündet Glanerts Musiktheater, das er gemeinsam mit der Offtheater-Regisseurin Nicola Hümpel und ihrer Theatertruppe Nico and the Navigators entwickelt hat. 1988 hatte Glanert mit seiner ersten Oper „Leyla und Medjnun“ die erste Biennale überhaupt eröffnet und kehrt jetzt zum Ort dieses doppelten Anfangs zurück. Und dieses Projekt, das die Biennale gemeinsam mit dem Münchner Residenztheater in Auftrag gegeben hat, und das am „Resi“ auch produziert wurde, unterscheidet sich grundlegend von den bislang bekannten Werken dieses an vielen Häusern erfolgreichen und vielgespielten Komponisten, der so wunderbar für menschliche Stimme schreiben kann – und hier vollkommen auf Gesang verzichtet. Wie viele Dystopien kommen auch „Die Befristeten“ im Gewand einer perfekten Welt daher: Den Menschen ist ihre Lebenszeit von Geburt an zugemessen, jeder trägt in einer Kapsel sein Geburts- und Todesdatum am Hals und die Zahl seiner Lebensjahre im Namen. Allerdings darf hier nur jeder selbst den eigenen Geburtstag kennen, so dass die anderen bei einem Menschen mit dem nüchternen Namen „Fünfzig“ zwar wissen, wie viele Jahre er leben wird, aber nicht, welches sein aktuelles Alter ist und wann sein Todeszeitpunkt sein wird, sein „Augenblick“, wie es im Stück heißt. Er selbst aber kann sich sein Leben entsprechend seiner zuverlässig bestimmten Lebenserwartung einrichten, es gibt keinen überraschenden Tod, keine abgebrochenen Lebensentwürfe, keine tragisch vereinsamenden Partnerschaften. Das Leben ist perfekt planbar. Aber wie in vielen Dystopien gibt es auch hier den einen, der gegen die schöne neue Welt aufbegehrt, weil er die Lüge und Sterilität darin spürt. Indem er herausfindet, dass die Kapseln leer sind und damit den „Kapselan“ genannten Großverwalter des pünktlichen Sterbebetriebs als Manipulator entlarvt, bringt er das System zum Einsturz – teils zur Freude, teils zum Entsetzen der fürsorglich Manipulierten. Die Stärke von Canettis Text ist seine kalkülhafte Strenge. Er setzt nur so viele Axiome wie zur Durchführung des dramatischen Gedankenexperiments nötig, das heißt: Er kümmert sich jenseits dieses Experiments wenig um die Charakterisierung der Figuren und die Tragfähigkeit seiner Axiome. Leider sieht Nicola Hümpel das aber als Schwäche an und belädt Canettis Kalkül mit wohlfeilen politisch korrekten Text-Sottisen wider den Fitness-Kult, die Wellness-Hysterie und die Hybris der (Gen-)Medizin. Auch das Flüchtlingsleid vor Lampedusa wird nicht ausgelassen. Das ist das eine Manko des Abends. Das andere liegt in Glanerts Musik und ist zumindest im experimentellen Anspruch sogar ehrenwert. Glanert hat den Prozess des Musiktheater-Komponierens umgekehrt: Statt seine Musik zu schreiben und es dem Regisseur zu überlassen, wie er damit klarkommt, hat er einen Großteil seines musikalischen Materials erst während des Probenprozesses gemeinsam mit den Navigators sowie dem sich vorzüglich in diesen Arbeitsprozess fügenden Münchner Instrumentalensemble piano possibile entwickelt. Genauer: Die Musik folgt im Arrangement ihrer Versatzstücke und teils auch in der Komposition der ebenfalls erst im Probenprozess vollzogenen Text- und Stückentwicklung – was zur Konsequenz hat, dass sie kaum einen eigenen formalen Zusammenhang entwickeln kann. Sie untermalt, manchmal kontrapunktiert sie auch. Und wenn man komponierend der Aktion folgt, dann landet man halt auch schnell mal bei allzu naheliegenden Allusionen: romantische Elegien für empfindsame Szenen, softer Blue-Jazz, wenn es um Wehmut geht, Dissonanzen für Verzweiflung und Aggression und die jazzig-repetitiven Figurationen für die Hektik. Glanerts Vorgehen mag für einen Opernkomponisten ungewöhnlich sein. Aber bei avancierter Schauspielmusik ist das Primat der Szene normal. Und da hier tatsächlich alle Texte – und es sind wahrlich nicht wenige! – gesprochen werden und man also eher ein Melodram als eine Oper erlebt, bleibt die Musik genau da auch stecken: im Sekundären. Gleichwohl hat dieser Abend, dem das rokoko-prächtige und doch intime Cuvilliéstheater einen pittoresk kontrastierenden Rahmen gibt, als theatrales Gesamtereignis starke Momente. Das liegt vor allem an der theatralen Choreographie, die Hümpel auf Oliver Proskes mit Plastikfolien vermüllter, ewig rotierender Endzeitbühne entfaltet, die bis auf ein Architektur-Versatzstück mit zwei Portalen leer ist: eine Kunst-Drehscheibe zur Präsentation einer künstlichen Welt. Wie da gesellschaftliche Einstellungen – Dünkel, Beflissenheit, Systemtreue, Verunsicherung, Aufbegehren, Neid, Schmeichelei – zu Körperhaltungen stilisiert werden, das ist stark: ein virtuoses Bewegungstheater, das Hümpel mit viel Gefühl für bildhafte Tableaus auf die Bühne stellt. In all seinen Verrenkungen – wunderbar die akrobatisch schwebenden Tanztaumeleien der zartgliedrigen Yui Kawaguchi – und slapstickenden Karikaturen ist es gar nicht so weit weg von Matthias Rebstocks Schnebel-Exerzitien tags zuvor. In der nuancierten und pointierten Sprachbehandlung allerdings waren die Stuttgarter Vocalsolisten den Navigators um Lichtjahre voraus. Glanerts Musik umspielt und umschmeichelt diese Endzeit-Szenarien mit teils geradezu demütiger Dezenz, ausgesprochen stimmungsvoll und theaterdienlich. Dass viele dieser verzweifelt komischen, schreiend trostlosen, leise tristen Szenen so stark wirken, ist auch dieser Musik zu danken, die die piano-possibile-Musiker an Saxophon, Klarinetten, Viola, Cello, Kontrabass, Keyboards, Gitarre und Schlagzeug unter der Leitung von Heinz Fried subtil und atmosphärisch umsetzen. Bedenkt man, was dieser Komponist alles kann, muss man dass als sehr bewusste Zurücknahme werten – und wird es keineswegs bedauern, dass er als nächstes Projekt wieder eine auskomponierte Oper auf der Agenda hat.

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